Neue Zeiten, andere Ordnungen. Zur Neuordnung der Vergangenheit in politischen Umbrüchen
Abstract
Politische Brüche und sogenannte Zeitenwenden gehen mit Neubeweruntgen einher. Im Moment der ‚Zeitenwende‘ geht der Blick im Interesse, neue Erwartungshorizonte und Handlungsspielräume auszuloten, einerseits in die Zukunft, andererseits nutzen politische Akteure Umbruchsituationen dazu, Vergangenheit neu zu bewerten und vermeintliche Gegebenheiten umzustoßen. Dabei reicht das Spektrum der Neuordnungen, zu der es in der Neueren und Neuesten Geschichte Mittel- und Osteuropas zahlreiche Beispiele gibt, von der Herrschaftslegitimation bis zur Delegitimierung von Herrschaft durch Entwicklung politisch-subversiver ‚Praxen‘. Diesen Versuchen der Neuordnung ist gemein, dass sie ihr Material in der Vergangenheit bzw. den bis dato geltenden historischen Narrativen suchen. Die Sektionsbeiträge widmen sich diesem ereignisinduzierten Infragestellen historischer Fakten.
In komparatistischer Absicht präsentieren die Referent*innen der Sektion Fallbeispiele der Neubewertung, -ausrichtung und -ordnung historischer Tatsachen. Gefragt wird nach den Realtypen von Palimpsesten wie nach geschichtspolitischen Wenden, die die Fragilität historischer Fakten illustrieren. Die Vorträge berühren die Transformation juristischer, sozialer und politischer Ordnungen. Sie fokussieren auf den Raum zwischen Oder und Weichsel.
Schüler*innen und Lehrer*innen sind herzlich zur Teilnahme eingeladen.
Der Vortrag führt in die Sektion ein und skizziert Typen des Denkmalsturzes. Ausgehend von der These, dass neue Vergangenheitsinterpretationen oft auf eine Erwartungslosigkeit in der Gegenwart reagieren, soll gezeigt werden, wie der Denkmalsturz nicht nur im Bruch mit dem Vergangenen, sondern in der Imagination des Kommenden besteht. Dabei wird auf der Grundlage literarischer und politikhistorischer Beispiele das Spannungsfeld von Diskontinuität und Kontinuität bei der Etablierung politisch-symbolischer Ordnungen illustriert.
Der Vortrag betrachtet Rechts- und Verwaltungskulturen im Herzogtum Warschau. Für die polnischen Eliten waren die Jahre um 1800 durch politische und sozioökonomische Umbrüche geprägt. Selbstentwürfe mussten den Transformationen angepasst werden, um Elitenpositionen mit neuen Vorstellungen von Staatlichkeit und Gesellschaft in Einklang zu bringen. Zentral für diese Vermittlung zwischen Vergangenheit und Gegenwart waren Aufführungen von Staats- bzw. Rechtskulten. Der Vortrag nimmt das neue Zivilgesetzbuch des Herzogtums in den Blick, das von den historischen Akteuren genutzt wurde, um die Legitimität von und die Übergänge zwischen gesellschaftlichen Positionierungen zu inszenieren.
Der Vortrag widmet sich der Errichtung eines polnischen De-Facto-Staates auf dem Gebiet der ehemaligen preußischen Provinz Posen zwischen dem November 1918 und dem August 1919. Gefragt wird, welches Geschichtsbild von den neuen Machthabern zur Legitimierung ihrer Herrschaftsansprüche entwickelt und wie es verbreitet wurde. Die Übernahme, Aneignung und der Ausbau der vorhandenen staatlichen Institutionen wird dabei ebenso betrachtet wie das Verhältnis des Posener statelet zu den Zentralregierungen in Berlin und Warschau. Dabei soll gezeigt werden, wie zivile und militärische Akteure Geschichte zur Sicherung ihres jeweiligen Machtanspruches einsetzen.
Infolge der dritten Teilung der polnisch-litauischen Adelsrepublik fiel die Hauptstadt des ehemaligen Großreichs in die Hände des preußischen Monarchen Friedrich Wilhelm III. Warschau war zwar nicht zum ersten Mal von einer fremden Macht besetzt worden, doch anders als bei vorangegangenen Okkupationen beabsichtigten die Preußen die langfristige rechtliche und wirtschaftliche Integration der Stadt in ihren Herrschaftsbereich. Eine solche „Amalgamierung“, wie es zeitgenössisch hieß, umfasste auch eine Reihe von Versuchen der symbolischen Aneignung der fremden Stadt. Einige dieser Bestrebungen sollen vorgestellt und auf ihre Wirkmächtigkeit in der nicht-preußischen Stadtbevölkerung untersucht werden.
Der deutsche Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden hat überwiegend im östlichen Europa stattgefunden. Der Aufbau der sozialistischen Zukunft und der spätstalinistischen Antizionismus verdrängten die Erinnerung daran. Erst im Zuge der von Chruschtschow eingeleiteten Tauwetterperiode war eine Beschäftigung mit dem Holocaust möglich.
In meinem Vortrag untersuche ich anhand von wissenschaftlichen, dokumentarischen und literarischen Publikationen und deren Rezeption, wie solche Annäherungen im sozialistischen Block stattfanden, wie sie miteinander interagierten und wie versucht wurde, den Holocaust in das antifaschistisch-sozialistische Bild vom Zweiten Weltkrieg zu integrieren.