Juliane Brauer Martin Lücke (Sektionsleitung)

„Multidirectional Memories“ im Konflikt – Akteur:innen und Aushandlungen in vier erinnerungspolitischen Feldern

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Abstract

Wem gehört welche Erinnerung und welche Geschichte ist es mehr wert, heute erinnert zu werden? Aktuelle geschichtspolitische Debatten um „multidirektionale Erinnerungen“ (Michael Rothberg) und „Fluchtpunkte der Erinnerung“ (Natan Sznaider) zeigen, dass v.a. postkoloniale Ansätze kontrovers und mit Gewinn diskutiert werden. Dabei geht es nicht allein um die Frage der Unvergleichbarkeit des Holocausts, sondern auch um die Frage der Sinnhaftigkeit von Partikularisierung versus Universalisierung historischer Ereignisse und damit um den Umgang mit der Pluralisierung von Erinnerungen. Die letzten zwei Jahrhunderte deutscher Geschichte sind voller Unrecht, Gewalt, Menschrechtsverletzung und Massenmord. Den aus der deutschen Vergangenheitspolitik der 1980er und 1990er Jahre resultierenden Schwerpunkten historischen Lernens, NS-Zeit und Holocaust, später hinzukommend die Unrechtsgeschichte der SED-Diktatur werden aktuell Themen zur Geschichte des Kolonialismus und aus der Queer-History zur Seite gestellt. Doch Zeit und Aufmerksamkeit sind begrenzt, die Interessen und Fragen an die Vergangenheit in unserer Migrationsgesellschaft unterschiedlich ausgeprägt und gewichtet, unter diesen Bedingungen konkurrieren die Erinnerungen um Legitimation und Aufmerksamkeit im Geschichtsunterricht und an außerschulischen Lernorten. In der Sektion soll diskutiert werden, welche Veränderungen v.a. das Konzept der "multidirektionalen Erinnerung" für die deutsche Erinnerungskultur und Geschichtspolitik mit sich bringt. Vier Beiträge adressieren diese Frage aus verschiedenen erinnerungskulturellen Gegenständen heraus. Sie diskutieren die je spezifischen Erinnerungsdiskurse und bringen sie ins Gespräch mit den aktuellen geschichtspolitischen Debatten um plurale, partikulare, universale und/oder „multidirektionale“ Erinnerungen und deren Chancen und Herausforderungen für das historische Lernen.

Elke Gryglewski (Celle)
Erinnern an Nationalsozialismus und Shoah heute

Es hat lange gedauert, bis es eine gesellschaftliche Mehrheit in der Bundesrepublik gab, die bereit war, sich mit dem Nationalsozialismus und den in dieser Zeit begangenen Verbrechen auseinanderzusetzen. In der DDR war die Beschäftigung mit dem Faschismus staatlich vorgegeben und verhinderte vielfach kritisch-reflexive Umgangsformen. Erst mit dem Mauerfall und der Frage der Zukunft historischer Orte mit doppelter Vergangenheit wurde von der Bundesregierung eine Gedenkstättenkonzeption entwickelt, die das staatliche finanzielle und inhaltliche Engagement in der Erinnerungskultur festschrieb. Das damit verbundene Bekenntnis zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ist also noch jung, die ambivalenten Haltungen – beispielsweise zu Täter*innenschaft allgemein und im familiären Umfeld besonders – in der Bevölkerung dauern an. Gleichzeitig wird die Erinnerungspolitik wieder zunehmend laut in Frage gestellt. Vor diesem Hintergrund erscheint die Diskussion um „multidirektionale“ Erinnerung wie eine weitere Bedrohung oder Infragestellung des Bekenntnisses zum Umgang mit dem NS und dessen Bewertung. Für die Stärkung der Erinnerungskultur in der postnazistischen, postmigrantischen Gesellschaft ist der Ansatz jedoch wichtig – wenn dabei Lernkontexte und -orte berücksichtigt werden.

Juliane Brauer (Wuppertal)
DDR-Geschichte(n) kontrovers

Die Erinnerung an die Geschichte der DDR durchlief in den letzten 30 Jahren mehrere Phasen. Zunächst ging es in der Geschichtspolitik des wiedervereinigten Deutschlands darum, möglichst rasch Unrecht juristisch, politisch und historisch „aufzuarbeiten“. Die Folie dafür bot das lange Ringen um den Umgang mit Schuld und Unrecht in der NS-Zeit in der „alten“ Bundesrepublik. Erst mit einer Verzögerung von 10 Jahren begann die Geschichtswissenschaft auch nach dem Leben der Menschen in der DDR zu fragen und mit Methoden der Gesellschaftsgeschichte, Alltagsgeschichte und Emotionsgeschichte die Grenzen von Herrschaft zu beschreiben und „Herrschaft als soziale Praxis“ (Thomas Lindenberger) zu diskutieren. Geschichtspolitisch bedeutete diese Entwicklung, dass sich in der Öffentlichkeit bis heute das „Diktaturgedächtnis“ (Martin Sabrow) als dominant zeigt und erst später die Erinnerung der Vielen in dem „Identitätsgedächtnis“ (Juliane Brauer) Eingang fanden. Vor dem Hintergrund der Debatte um „multidirektionale“ Erinnerung stehen wir vor einer erneuten Justierung und Aushandlung der DDR-Erinnerung. In dem Beitrag wird die Frage nach dem „Fall“ DDR-Erinnerungen gestellt. Was lässt sich über den Umgang mit kontroversen Erinnerungsmustern für die Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft ableiten? Wie lässt sich angesichts knapper Ressourcen geschichtspolitisch das Verhältnis von NS-Erinnerung zur DDR-Erinnerung charakterisieren? Wie kommen die Auseinandersetzung um die DDR-Geschichte heute mit den Debatten um Dekolonialisierung und queere Geschichte produktiv zusammen?

Martin Lücke (Berlin)
Queere Erinnerungen und die Emanzipation des Opferbegriffes

Queeres Erinnern an den Holocaust hat in den vergangenen Jahren zu lebhaften Debatten darum geführt, wem innerhalb der LSBTIQ-Community ein queeres Gedenken an die Zeit des Nationalsozialismus ‚gehört`. Bereits die Debatten um das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Homosexuellen im Berliner Tiergarten hatte zu Beginn der 2000er Jahre zu einer kontroversen Auseinandersetzung geführt. Konflikthaft wurde zuletzt vor allem darüber diskutiert, ob lesbischer Frauen als Opfern des NS am ‚authentischen` Ort des Konzentrationslagers Ravensbrück gedacht werden darf. Der Vortrag zeichnet nach, wie vor dem Hintergrund einer Aushandlung des Verfolgungsbegriffes die Kategorie „Opfer“ verwendet wird und welche erinnerungspolitischen Akteur*innen mit welchen Interessen an der Debatte beteiligt waren und sind. Der Blick richtet sich dabei geschichtspolitische Argumente und auf Fachdiskussionen innerhalb der Queer History, v.a. zum Umriss eines neuen queeren Verfolgungsbegriffes.

Lale Yildirim ((Osnabrück))
Erinnerung zwischen „Ihr seid nicht das Volk“ & „Wir sind auch das Volk“

Die NS-Geschichte und der kritische Umgang mit dieser konflikthaften Geschichte wurde und wird oft noch als Entrebillet (Bettina Alavi) in die deutsche Gesellschaft verstanden. Somit wird geschichts- und erinnerungskulturelle Partizipation über die kritische Aneignung und Identifikation mit einer menschenverachtenden Gewalt-Erinnerung ohne gleichen erwartet. Zugespitzt könnte man* weiter folgern, dass von migrantisch gelesenen Personen, die als nicht-Weiß wahrgenommen und kategorisiert werden und die stets als natio-ethno-kulturell andere behandelt werden, deren Erinnerungen und Geschichten nicht als selbstverständlich zugehörig zur deutschen Geschichte und somit Gesellschaft anerkannt werden, eine Leistung erwartet wird, die viele natio-ethno-kulturelle sogenannte Deutsche nicht leisten. Die Erinnerung und die Verantwortung für die Zukunft, die sich aus der gewaltvollen deutschen Geschichte ergeben, werden zu westlichen Erinnerungen geformt, die Werte und Vorstellungen von Zugehörigkeit tradieren, die nur Personen Partizipationschancen eröffnen, die sich assimilieren oder einen biologischen, abstammungsbelegten „Nazi-Hintergrund“ haben. Ein kritisch-genetisches Ein-Erzählen oder das Z-Erzählen ist nicht möglich, wie auch kein multidimensionales, gleichberechtigtes Erinnern. Der Beitrag fokussiert auf die Fragen, wie aus „Wir sind das Volk“ „Ihr seid nicht das Volk“ wurde und Gegenbewegungen unter „Wir sind auch das Volk“ hervorrief.
Diskutiert wird der Ausschluss migrantischer Erinnerungen aus Ost und West im Umgang mit deutsch-deutscher Geschichte und mit der NS-Vergangenheit.

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