Frank Kleinehagenbrock Nicole Priesching Jürgen Schmiesing (Sektionsleitung)

Missbrauch als Thema der Zeitgeschichte – Perspektiven und Herausforderungen

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Abstract

In den zurückliegenden Jahren beschäftigt sich die Öffentlichkeit mehr und mehr mit Missbrauch im Sinne sexualisierter Gewalt. Dieses hochemotionale Thema ist von gesamtgesellschaftlicher Relevanz und nicht nur auf den Bereich der katholischen Kirche zu beschränken.  Missbrauch ist ein Teil der Gewaltgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und verdient deswegen eine angemessene Kontextualisierung. Dies zeigen Aufarbeitungsprozesse von sexualisierter Gewalt in institutionellen Kontexten (Kirchen, Sport, Internate, Heime).  Diesen gebührt – im Dialog mit anderen Wissenschaften wie beispielsweise der Rechtsgeschichte, der Forensik oder der Pädagogik – mehr und mehr das Interesse der Zeitgeschichtsforschung.

In methodischer Hinsicht steht die Erforschung des Missbrauchs vor besonderen Herausforderungen, weil sich die Erkenntnisse aus schriftlicher wie mündlicher Überlieferung als besonders fragil erweisen. Während etwa der Informationswert kirchlicher Akten aufgrund sprachlicher Umschreibungen der relevanten Sachverhalte vage und die Betroffenenperspektive unklar bleibt, steht die Oral History vor besonderen Herausforderungen. So stellen Zeitzeugeninterviews – von Betroffenen wie von Beschuldigten – die Interviewenden vor Schwierigkeiten, die mit dem bewährten Instrumentarium der Oral History nicht hinreichend gelöst werden können. Die Erforschung des Missbrauchs macht also Reflexionen über Anwendung und Nutzen bewährter Methoden notwendig, gerade vor dem Hintergrund „fragiler Fakten“ und bestehender Deutungskämpfe.

Zugleich müssen die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen Missbrauch möglich ist, näher erfasst werden. Dabei geht es um soziale Strukturen in Städten und Dörfern, Vereinen und Pfarreien oder von Familien, um die Konditionen des Beschweigens und des Sagbaren sowie um juristische oder medizinische Bewertungen. Dabei kann der Umgang mit dem Thema als Seismograph für die Veränderungsdynamik innerhalb der Gesellschaft dienen. In dieser Sektion soll auch gefragt werden, welche Erwartungen Betroffene von sexualisierter Gewalt an die Geschichtswissenschaft richten.

Nicole Priesching (Paderborn)
Begüßung/Einleitung
Christine Hartig (Paderborn)
Oral History und ‚Aufarbeitung‘. Intentionen und Herausforderungen für Interviewende und Interviewte

Bei Interviews mit Betroffenen sexueller Gewalt von Klerikern der katholischen Kirche stehen Interviewte wie Interviewende vor spezifischen Herausforderungen. Oral History ist der Versuch, die subjektiven Erlebens- und Deutungsdimensionen von Zeitzeug*innen zu rekonstruieren. Es gilt aber auch: Erzählt werden kann nur, was erinnert wird und was gehört werden will. Traumata, Schuldgefühle, Scham, Ängste, etc. beeinflussen Erzählungen über die Vergangenheit ebenso wie die aktuelle Debatte über die Zukunft der Kirche. Welche Spezifika solche Interviews aufweisen können, soll anhand von drei Themenfeldern aufgezeigt werden: Frühere Thematisierungsmöglichkeiten solcher Gewalterfahrungen, Prämissen der Oral History, ethische Standards bezüglich Interviewführung.

Uwe Kaminsky (Berlin)
Heimerziehung als Missbrauchsraum. Oral History und Aktenanalysen an Beispielen aus diakonischen Einrichtungen

In Forschungen über die Schicksale von Heimkindern haben sich Heime auch als Missbrauchsräume exponiert. Ohne die Selbstorganisation und den Protest der Betroffenen hätte die Forschung vielfach keinen Anstoß gehabt, sich mit ihnen zu beschäftigen.

Die Befragung Betroffener mit der Methode der Oral History hat dabei Hinweise auf Missbrauchsszenarien gegeben, die sich ansonsten nur spärlich in Sachakten dokumentiert fanden. Eine Quellenkritik blieb gegenüber beiden Quellengattungen geboten. Die Aktenüberlieferung wie auch die Interviews verwiesen auf zeitlich, örtlich und auch die Personen betreffend teilweise unklare Zusammenhänge. Erst die Herstellung eines historischen Kontextes als Aufgabe der Forschenden ermöglichte die Zuordnung zum Teil fragmentierter Erfahrungen in eine Geschichte.

Katharina Kracht (Bremen)
Kommentar
Monika Dommann (Zürich) Marietta Meier (Zürich)
Pilotstudie „Sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche der Schweiz“. Methodische und geschichtspolitische Überlegungen

In der Schweiz haben zentrale Gremien der katholischen Kirche 2021 gemeinsam eine Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch in Auftrag gegeben, die alle Sprachregionen der Schweiz umfasst und 2024 weitergeführt werden soll.

Im Vortrag wird Bilanz gezogen über die bisherigen Erfahrungen bei der Durchführung des Projekts. Welche methodischen Probleme stellen sich bei Auftragsforschung im Kontext der katholischen Kirche? Worin liegen das Potential und die Grenzen solcher Forschungsprojekte für sozial- und kulturhistorische Fragestellungen? Und wie prägt die Zusammenarbeit mit Missbrauchsbetroffenen und Vertreter:innen der Kirche die geschichtswissenschaftliche Arbeit?

Thomas Großbölting (Hamburg)
Von „guten Hirten“, missbrauchenden Klerikern und sexualisierter Gewalt. Macht und Deutungsmacht als Vexierbild im öffentlichen Diskurs

Wer plausibel machen will, was im Katholischen Missbrauch ermöglichte und dessen Vertuschung begünstigte, der muss sich tief einlassen auf die religiöse Lebenswelt von Beschuldigten, Betroffenen und Bystanders: Die Metapher vom „guten Hirten“ steht als pastorale Selbstzuschreibung im Kontext der sexualisierten Gewalt für das Potenzial zur Übermächtigung der Opfer. An ihr zeigt sich auch die klerikale Überhöhung des Priesters, die auch den institutionellen Selbstschutz und die Vertuschung theologisch legitimieren half. Der Beitrag wird den damit begründeten Machtkonstellationen und ihrem Wandel nachgehen.

Michelle Böhlke (Osnabrück)
Kommentar
Susanne Rappe-Weber (Ludwigstein)
"Pädagogischer Eros“ als Rechtfertigung für sexualisierte Gewalt in Jugendbewegung und Reformpädagogik?

In der Jugendbewegung wurden Texte von Hans Blüher (Philosoph) und Gustav Wyneken (Reformpädagoge) zur Legitimation verbotener mann-männlicher pädophiler Beziehungen gebraucht. Wie weit verbreitet dieses Rechtfertigungskonstrukt war, wird im Zuge der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt zunehmend deutlich. Interessant ist dabei die positiv besetzte Rahmung „Pädagogischer Eros“ in Verbindung mit der Etablierung von Gelegenheitsstrukturen in (außer-) schulischen Angeboten. So entstanden Gefährdungsräume für junge Menschen, die Täter zur Ausübung von Gewalt ausnutzen konnten.

Jürgen Schmiesing (Osnabrück)
Sexualisierte Gewalt als Gegenstand historischer Forschung

Welche Anforderungen stellt sexualisierte Gewalt als Forschungsgegenstand an historisch Forschende? Die Antwort auf diese Frage bestimmt auch den Standort des Historikers in entsprechenden Forschungsprojekten und -kontexten.

Der Beitrag greift Beobachtungen aus der praktischen Forschungstätigkeit auf und leitet daraus Überlegungen für die Zukunft dieses Forschungsfeldes ab. Sexualisierte Gewalt stellt besondere Ansprüche an die fachlichen Kompetenzen, interdisziplinäre Vernetzungen, Forschungsdesigns und an die Wissenschaftskommunikation. Hierzu gehört auch das Spannungsfeld von Wissenschaftsfreiheit und Äußerungsrecht.

Karl Haucke (Köln)
Kommentar
Frank Kleinehagenbrock (Bonn)
Resümee
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