Eva Haverkamp-Rott (Sektionsleitung)

Jüdisches Kulturerbe hinterfragen

Download iCal

Abstract

Jahrzehnte nach der Schoa und angesichts weiterer traumatischer Erfahrungen von Vertreibung, Flucht, Migration und widrigen Neuanfängen reflektieren Mitglieder jüdischer Gemeinden in Deutschland über ihr kulturelles Erbe und wie dieses vermittelt werden könnte. Dieses Nachdenken hat die Gesamtheit aller Ausdrucksformen jüdischen Lebens im Blick, wurde allerdings auch häufig vereinnahmt und entfremdet durch kulturpolitische Bestrebungen und Ziele von außen. Die Sektion zeigt Aspekte des bisherigen gesellschaftlichen und kulturpolitischen Umgangs mit jüdischem Kulturerbe in Europa von jüdischer und nichtjüdischer Seite; sie eröffnet aber auch Wege für eine Patrimonialisierung jüdischen Kulturerbes sowie für Aushandlungen in der öffentlichen Präsentation und politischen Wirksamkeit dieses Erbes für ein gegenwärtiges und zukünftiges Miteinander von Juden und Nichtjuden "auf Augenhöhe".

Als interdisziplinäre Sektion werden wissenschaftliche, denkmalpflegerische, museologische und kulturpolitische Aspekte zur kritischen Diskussion gestellt. Der bisherige Umgang mit Objekten und Orten jüdischen Kulturerbes wird ebenso thematisiert wie die mögliche zukünftige Einbindung dieser in wissenschaftlichen, musealen und öffentlichkeitswirksamen Kontexten. Auf Grund der Ubiquität von entanglement jüdischer und nichtjüdischer Geschichte und Kultur führen die aufgeführten Aushandlungsprozesse nicht nur zur neuen kritischen Reflexion des sich daraus entwickelten kulturellen Erbes, sondern zur Hinterfragung gesamtgesellschaftlicher und alle Religionen umfassender Identitätsprozesse. Diese epochenübergreifende Sektion wird von der "Gesellschaft zur Erforschung der Geschichte der Juden" eingereicht und bezieht sich auf Teilprojekte ihrer Mitglieder innerhalb des von der DFG geförderten Schwerpunktprogramms "Jewish Cultural Heritage" (SPP 2357). Sie ist für die Zielgruppe Lehrer:innen und Schüler:innen geeignet.

Andreas Brämer (Hamburg)
Moderation
Eva Haverkamp-Rott (München)
Jüdisches Kulturerbe hinterfragen

Als Einführung in die Sektion stellt die Referentin Aspekte in den sehr diversen Formen des Umgangs mit jüdischem Kulturerbe vor. Kulturpolitische Bestrebungen und Ziele von Institutionen außerhalb der jüdischen Gemeinden können dabei eine nicht unproblematische Rolle spielen. Der Vortrag zeigt mögliche Wege der Patrimonialisierung jüdischen Kulturerbes auf, die sogar die mittelalterliche Vergangenheit der jüdischen Gemeinden sowie die agency ihrer Mitglieder:innen miteinbeziehen und zugleich die Ubiquität von entanglement jüdischer und nichtjüdischer Geschichte und Kultur verdeutlichen.

Judith Olszowy-Schlanger (Paris)
Jewish legal heritage from the Middle Ages

Scholars create and renew cultural heritage by making sources and their findings available to other scholars and the public. Prof. Olszowy-Schlanger presents her search for medieval legal documents in Hebrew characters written by Jewish communities and individuals in medieval Europe. Several hundreds of such documents have been identified so far in Germany, England, France, Poland, Hungary, Slovenia and Spain. Her project includes the edition of medieval charters in Hebrew script and their diplomatic study in the Brepols series MPMA as well as their online palaeographical record and analysis as part of the HebrewPal project.

Ahuva Liberles (Tel Aviv)
A Rabbi's notebook as a window to Jewish heritage from late medieval Regensburg

The expulsions between 1350 and 1519 in German territories not only uprooted thousands of Jews, but also had the potential to erase local traditions and religious interpretations of Jewish law. Benjamin (Biman) Katz, a prominent Bavarian rabbi, recorded traditions, records of daily life, and religious interpretations by migrants from near and far who moved to Regensburg. Dr. Liberles examines his (unpublished) notebook as a tool for coping with lost communities and traditions and as a tool for integration. Considering Regensburg’s Jewish community today, she explores how awareness of these medieval developments can foster the search for local identity and for a heritage of its own.

Harald Lordick (Duisburg-Essen)
Jüdisches Kulturerbe? Zur Ver›ort‹ung von jüdischer Wohlfahrt und Sozialpolitik in der deutsch-jüdischen Erinnerungskultur

Jüdische Jugendheime, Ausbildungs- und Freizeiteinrichtungen, Gemeinde- und Krankenhäuser, Altenheime oder Tahara-Häuser auf Friedhöfen sind Kristallisationspunkte sozialer Traditionen und Konzepte: Als jüdische Orte sind sie in ihrer ursprünglichen Form der Schoa zum Opfer gefallen, als geografische ›Koordinaten‹ sind sie vorhanden, als Bauten nur manchmal noch erkennbar oder völlig verschwunden. Ursprüngliche Motivation und Entstehung, spätere Zweckentfremdung, Zerstörung und schließlich Wiederverwendung (selten durch jüdische Einrichtungen) haben diese Orte geprägt. Welche Wahrnehmung haben sie im deutsch-jüdischen Kulturerbe? Eine Sondierung entlang von Gedenkzeichen und Fallbeispielen.

Ulrich Knufinke (Braunschweig) Ruth Leiserowitz (Warschau)
Aneignung und Revitalisierung. Aushandlungsprozesse des deutsch-jüdischen Kulturerbes in Polen

Der Vortrag befasst sich aus interdisziplinärer Perspektive (Kultur-, und Sozialgeschichte, Baugeschichte, Denkmalpflege) mit gebauten Zeugnissen jüdischer Kultur und Geschichte in den ehemals deutschen Gebieten Polens als Gegenstände einer vielschichtigen Aneignung als „Kulturerbe“ durch diverse Gruppen und Akteure. Im Mittelpunkt stehen dabei der Umgang mit ehemaligen Synagogen und deren Umwandlung in Museen, andere öffentliche Einrichtungen oder in neue Zentren gegenwärtiger jüdischer Gemeinden.

Ihr Feedback