Elisabeth Gallas Jakob Stürmann (Sektionsleitung)

Fragiler Rahmen: Jüdische Initiativen der Dokumentation und Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen in der Sowjetunion

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Abstract

Bereits im Angesicht des Geschehens haben Jüdinnen und Juden damit begonnen, nationalsozialistische Verbrechen zu dokumentieren, weltweit auf sie aufmerksam zu machen und ihre strafrechtliche Ahndung vorzubereiten. In der Sowjetunion standen sie dabei vor zwei besonderen Herausforderungen: Das totalitäre Regime nahm eigenständige zivile Initiativen immer auch als eine Bedrohung des staatlichen Kontrollanspruchs wahr. Ferner wurde die außen- und innenpolitischen Maxime der Sowjetunion im Laufe der 1940er Jahre mehrfach geändert. Dies betraf auch das Verständnis des Staates von Recht, Unrecht und der Notwendigkeit einer Aufarbeitung des Holocaust. Es variierte je nach Positionierung und Interessen Stalins im weltpolitischen Zusammenhang sowie zwischen Zentrum und Peripherie der Sowjetunion. Wie erst jüngst in der Forschung aufgezeigt, wurden die zahlreichen, auch staatlich gestützten Aktivitäten von Dokumentation und Verurteilung der NS-Verbrechen insbesondere von jüdischen Initiativen getragen. Dem aus diesen Aspekten entstehenden Spannungsverhältnis zwischen jüdischen Bestrebungen nach Aufklärung und Strafverfolgung der beteiligten Täterinnen und Täter sowie ihrer Kollaborateure einerseits und den unwägbaren staatlichen Rahmenbedingungen andererseits, soll in der Sektion nachgegangen werden. Von wichtigen Kommissionen, Prozessen und Schriften ausgehend, analysieren die Vorträge zentrale juristische und gesellschaftspolitische Aspekte, die eine jüdische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Sowjetunion ermöglichten, bestimmten und begrenzten. Dadurch soll vor allem die Ambivalenz hervortreten, die jede Beschäftigung mit dem Thema Krieg und Vernichtungspolitik in der Sowjetunion auszutarieren hatte. Ziel ist es, die Erschütterung des sowjetisch jüdischen Lebens in dieser spezifischen Periode aufzuzeigen und die fluiden Handlungsräume individueller Akteure an der Schnittstelle von totalitären Formen und stetig wechselnden politischen Allianzen zu beschreiben.

Claudia Weber (Frankfurt an der Oder)
Thematische Einführung und Moderation
Jakob Stürmann (Leipzig)
Ein Moment jüdischer Einigkeit? Die Welttournee des Jüdischen Antifaschistischen Komitees 1943

1943 berichteten Solomon Mikhoels und Itsik Fefer im Ausland über die nationalsozialistische Vernichtungspolitik im östlichen Europa. Dabei richteten die beiden sowjetischen Juden bei Großveranstaltungen und Treffen mit Repräsentanten jüdischer Organisationen auf Jiddisch den Appell nach „jüdischer Einigkeit“ im Kampf gegen Nazi-Deutschland an ihre Zuhörerschaft. Diese mehrdimensionale Begrifflichkeit und die divergierenden Begriffsverständnisse stehen im Mittelpunkt des Vortrages. Sie verweisen auf die Komplexität des bisher wenig beachteten Aspekts internationaler jüdischer Kooperationsbemühungen zwischen der Sowjetunion und Staaten der westlichen Hemisphäre während des Krieges.

Elisabeth Gallas (Leipzig)
Dokumentation und Anklageschrift – Das transnationale Black Book: The Nazi Crime against the Jewish People 1946

Aus der von Jakob Stürmann beleuchteten Zusammenarbeit jüdischer Akteure in den 1940er Jahren ging ein einzigartiges Dokumentationsprojekt hervor, das sich der Darstellung von Verfolgung und Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden widmete. Das hier entstehende Black Book diente nicht nur der Generierung von Öffentlichkeit, sondern war explizit als Jüdische Anklageschrift für die Nürnberger Prozesse konzipiert. Im Vortrag wird die Initiative im Kontext einer von Ambivalenzen bestimmten politischen Situation der Nachkriegszeit beleuchtet und die rechtliche Bedeutungsebene des Projekts herausgearbeitet.

Wolfgang Schneider (Heidelberg)
Zwischen Anerkennung und Instrumentalisierung – Sowjetische Kollaborationsprozesse gegen jüdische Ghettofunktionäre 1944–1949

Sowjetische Strafverfolger eröffneten 1944–1949 Strafverfahren gegen mindestens 51 ehemalige Judenräte und jüdische Polizisten transnistrischer Ghettos. Die Behörden boten in den Prozessen oft einen kommunikativen Raum, in dem Überlebende staatliche Anerkennung für ihre Opfererfahrung fanden. Zeugen und Angeklagte diskutieren die widersprüchliche Rolle der jüdischen Funktionäre und soziale Konflikte im Ghetto. Andererseits instrumentalisierten die sowjetischen Strafverfolger die Prozesse regelmäßig für verschiedene Ziele (von Korruption bis zur Repression jüdischer Gemeindestrukturen). Der Vortrag stellt diese Widersprüche anhand übergreifender Muster und ausgewählter Fallbeispiele heraus.

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