Fragile Akten? Herausforderungen von (digitaler) Überlieferungsbildung und Faktizität
Abstract
Bekanntermaßen besteht ein Unterschied zwischen der historischen Realität und der archivischen Überlieferung. Kurz: Das, was überliefert wird, bildet nicht die Vollständigkeit dessen ab, was einmal als Quelle entstanden ist. In der Überlieferung treten immer wieder Überlieferungslücken auf: Es kann gezielte Vernichtung, unbeabsichtigter Verlust oder vergessene Überlieferung gegeben haben. Auch eine gezielte Erfindung oder Verfälschung von digitalen Dokumenten ist vorstellbar.
Der Zusammenhang zwischen vorhandener Überlieferung und einer sich daran orientierenden Forschung ist schon oft Gegenstand erkenntnistheoretischer Überlegungen gewesen. Es fragt sich stets, ob und inwiefern eine quellenpositivistische Auswertung historische Darstellungen auf ungebührliche Weise verzerrt oder die Überlieferung selbst für eine Schieflage der gesamten Geschichtsschreibung sorgt. Diese Diskussionen wurden in den 1960er-Jahren im Zeichen der bis dahin eher vernachlässigten Sozialgeschichte und seit den 1980er-Jahren unter dem Stichwort des Dekonstruktivismus geführt.
In der aktuellen Diskussion hat sich jedoch das Problem einer lückenhaften und begrenzten Überlieferung zu einer Klage über die Überfülle der Überlieferung gewandelt. Dieser Umstand lässt die Frage aufkommen, welche Erwartungen Historiker:innen an die archivalische Überlieferung haben, welche Rolle Archivar:innen bei der Auswahl der Unterlagen in ihrem Bewertungsprozess einnehmen und welche technologischen Probleme zwischen Überlieferung, Bewertung/Erschließung sowie Auswertung eine Rolle spielen. In jeder der drei Hinsichten lassen sich Fragen zur Faktizität von Überlieferung stellen, egal ob es sich um schriftliche oder audiovisuelle Quellen handelt.
Diese Fragen weisen auf verschiedene Möglichkeiten einer epistemologischen Betrachtung zum Zusammengang zwischen Überlieferung und Entstehung von Faktizität hin. Was ist eine authentische und integre Überlieferung? Welche Voraussetzungen besitzt sie, welche Folgen hat das für die Arbeit der Archive und welche für die Historiker:innen?
Die Frage der Vollständigkeit und Integrität historischer Überlieferung stellt sich nicht erst seit der Entstehung und archivischen Übernahme digitaler Dokumente – sie ist vielmehr ein Grundproblem seit Geschichte erforscht wird. Seit jeher gab und gibt es Fälschungen in der Geschichte. Von Fake News spricht die Welt nicht erst, aber ganz besonders seit der Präsidentschaft von Donald Trump.
In dem Vortrag soll die Problematik grundsätzlich diskutiert werden, wie die Geschichtswissenschaft mit dem Problem von Fälschung und Verfälschung bisher verfahren ist. Durch die Digitalisierung bedarf es eines Neuansatzes v. a. in methodischer Hinsicht, ohne die Diskussion auf datentechnische Verfahren zu verkürzen.
Elektronische Verwaltungstätigkeit ist trotz aller Unkenrufe auf dem Vormarsch und in manchen Bereichen seit den 1980ern schon längst Realität. Fast genauso lang machen sich Archive Gedanken über die langfristige Sicherung der entstehenden Unterlagen und ihre Bereitstellung für die Forschung. Neue Quellentypen, die durch internetbasierte Dienste entstanden sind und sich rasant weiterentwickeln, sorgen für große Herausforderungen – zumal gleichzeitig der Originalerhalt analoger Quellen die Archive vor riesige Probleme stellt.
Der Vortrag will am Beispiel des Stadtarchivs Münster einen kurzen Überblick darüber geben, was Archive tun, um eine aussagekräftige Überlieferung aus dem elektronischen Überangebot an Informationen zu gewinnen, wo dabei personelle und strukturelle Ressourcen Grenzen setzen, und ob Historikerinnen und Historiker der Zukunft weiterhin überlegen müssen, welches Archiv für welche Unterlagen zuständig ist und wie sie an ihre Forschungsdaten kommen.
Digitale und hybride Unterlagen haben unterschiedliche Entstehungskontexte, die oftmals nicht verbindlich miteinander in Bezug gesetzt sind. Hieraus erwachsen „Uneindeutigkeiten“ in der archivischen Überlieferungsbildung, die von Historiker_innen quellenkritisch reflektiert werden müssen. Der Beitrag führt an konkreten Beispielen aus, wie hieraus neue Anforderungen an die archivische Überlieferungsbildung erwachsen und ein möglicher Umgang hiermit aussehen könnte.
Mit dem iconic turn ist deutlich geworden, dass Erkenntnis nicht allein über den Text, sondern auch über das Bild gewonnen wird. Vorwiegend visuelle Medien, wie die Virtuelle Realität (VR) oder die Augmentierte Realität (AR) erfreuen sich einer immer größeren Beliebtheit zur Wissensvermittlung. Im Vergleich zu anderen Bildmedien ist jedoch bislang nur unzulänglich erforscht worden, welche epistemischen Potenziale hinter VR/AR für die historische Forschung stecken. Ausgehende von der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, die darauf abzielt, Wahrheit durch Erfahrung zu vermitteln, soll exemplarisch gezeigt werden, inwieweit Wissen mithilfe von immersiven Technologien (VR/AR) generiert werden kann.
Digitale Quellen scheinen nur so zu sprudeln. Für Forschungen zur Geschichte des 21. Jahrhunderts kommen Historiker:innen daher kaum noch um digitale Quellen herum. Sowohl die Quellenfülle als auch die langfristige digitale Überlieferung stellen für solche Forschungen allerdings ein fundamentales Problem dar. Nach wie vor arbeiten Historiker:innen relativ hemdsärmlich, fehlen etablierte Erschließungssysteme und Kompetenzen einer digitalen Quellenkunde. Anhand von Forschungen zur Geschichte des 21. Jahrhunderts skizziere ich aktuelle Praktiken und Probleme der digitalen Überlieferungsbildung und spüre den Potenzialen digitaler Überlieferungen für zukünftige Forschungen nach.