Erinnerungen und Algorithmen. Oral History im digitalen Wandel
Abstract
Die Frage der Faktizität begleitet die Oral History schon von jeher. Ihre Ergebnisse galten vielen Historiker*innen lange Zeit als inhaltlich und methodisch fragil. Erhoben würden subjektive Erinnerungen statt historischer Fakten; die Interpretationen anhand weniger Interviews seien weder repräsentativ noch verifizierbar. Eben: fragile Fakten.
Unterdessen nutzen immer mehr Forschungsprojekte auch Oral History-Interviews. Jenseits der Ereignisgeschichte fragen sie nach der biografischen Erfahrung, nach individuellen und kollektiven Erinnerungsmustern in ihrer historischen Wirkmächtigkeit.
Dank der Digitalisierung können Oral History-Analysen inzwischen auf breiterer Basis durchgeführt werden. Digital gespeicherte Interviews können als Musterbeispiel geschichtswissenschaftlicher Forschungsdaten gelten, sind sie doch im Forschungsprozess gemeinsam mit den Interviewten erzeugte Quellen, die für spätere Überprüfungen und Sekundäranalysen zur Verfügung stehen oder stehen sollten.
Digitale Plattformen wie das Fortunoff Archive der Yale University oder die Forschungsumgebung Oral-History.Digital der Freien Universität Berlin machen bislang schwer zugängliche Oral History-Interviews für Sekundäranalysen verfügbar und mit anderen Quellen verknüpfbar. Digitale Analysen wie das Topic Modeling ermöglichen datengetriebene Explorationen auch in unerschlossenen Beständen.
Allerdings stellen die qualitativen, audiovisuellen und datenschutzrechtlich sensiblen Daten der Oral History solche digitalen Projekte vor methodische, technische und ethische Herausforderungen. Digitale Suchumgebungen bergen die Gefahr der Entkontextualisierung einzelner Interviewabschnitte, auch wenn sie quellennahe Analysen erleichtern. Machen digitale Interfaces die „Era of the Witness“ zur „Era of the User“? Eignen sich quantitativ arbeitende Such-Algorithmen für die qualitativen Daten der Interviews? Überlagern hier womöglich Arte-Fakte der Algorithmen die fragilen Erinnerungen der Interviewten?
Herdis Kley und Cord Pagenstecher (Freie Universität Berlin) stellen die von der DFG geförderte Forschungsumgebung Oral-History.Digital (OH.D) vor. Dieses im September 2023 veröffentlichte Online-Portal unterstützt sammelnde Institutionen und Forschungsprojekte bei der Archivierung, Erschließung und Bereitstellung sowie der sammlungsübergreifenden Recherche, Annotation und Auswertung von Zeitzeugen-Interviews. Am Beispiel der OH.D-Forschungsumgebung diskutiert der Beitrag die Anwendbarkeit der für Forschungsdaten geforderten FAIR-Prinzipien – findable, accessible, interoperable, reusable – auf personen- und datenschutzrechtlich hochsensible Oral-History-Interviews.
Die Nachnutzung großer Interviewbestände stellt Forschung vor die Herausforderung von Massendatenanalysen. Welcher Mehrwert an Erkenntnis wird durch neue Techniken und Methoden gewonnen und wie angemessen ist der erforderliche Aufwand? An konkreten Fragestellungen erläutert der Beitrag Chancen und Risiken automatischer Spracherkennung, Named Entity Recognition sowie vokabular- und algorithmengesteuerter Kontextualisierung und Analyse. Welche Herausforderung ergeben sich aus dem Fehlen individualspezifischer Daten durch die Anonymisierung und Pseudonymiserung? Wie sehr sind unsere Fragestellungen von mikrohistorischen Perspektiven geprägt, die das identifizierbare Individuum voraussetzen?
One of Fortunoff’s recent efforts to activate the collection in teaching and research is the production of annotated critical editions of Holocaust video testimonies: https://editions.fortunoff.library.yale.edu/. The “Critical Editions Series” contextualizes testimonies in their historical time and place. Produced by research fellows, each edition includes an introductory essay, an annotated transcript that provides additional insight and background information, and a translation. These original pieces of scholarship are both quite traditional in their scholarly approach and rigor but also innovative in their presentation as a hybrid audiovisual/textual resource.
Am Beispiel von Belarus skizziert der Beitrag ethische und rechtliche Herausforderungen der Oral History unter Bedingungen repressiver Diktatur. Das Sammeln von Dokumenten mündlicher Geschichte wird immer problematischer. Drängende Fragen sind: Welche Themen können bearbeitet werden? Wie sollen Interviews mit Zeitzeugen organisiert werden? Wie kann man neue Oral History-Quellen bewahren? Und wie kann man sie in Zukunft nutzen? Der digitale Zugang zu solchen Archiven kann dazu beitragen, dass Belarus in künftigen Studien über diese Zeit repräsentiert ist. Unabdingbar ist aber der Schutz der Zeitzeugen und Interviewenden etwa durch Anonymisierung und kontrollierten Zugang zu den Archiven.
Philipp Bayerschmidt und Dennis Möbus beleuchten die Potentiale von KI-Verfahren zur Textauswertung in der Oral History. Mit Topic Modeling und Word Embeddings sollen Informationen aus einem Interviewkorpus extrahiert werden, die bei der Lektüre kaum oder gar nicht auffallen und Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zwischen einzelnen Interviews oder ganzen Sammlungen sichtbar machen. Ein Use Case – die Suche nach Erfahrungen von Personen, die nach 1945 dauerhaft nach Deutschland migriert sind –, wird zeigen, wie eine solche Analyse umgesetzt werden kann. Dabei geht es konkret um das Auffinden von Narrativen, die den ambivalenten Zustand zwischen Herkunft und Ankunft (be)greifbar machen.