„Demokratie macht Arbeit – macht Arbeit Demokratie?“
Abstract
Die Entwicklung von Demokratie und Partizipation in der Hochmoderne findet vermehrt historiographische Aufmerksamkeit, sei es als Beschreibung einer Krise der gegenwärtigen Demokratie oder als eher irritierende Erfolgsgeschichte einer Demokratisierung seit dem Kaiserreich. Zu oft liegt der Fokus dabei auf staatlichen Institutionen und Wahlrechtsfragen.
Seit der Industrialisierung markierte die Frage nach der politischen Teilhabe der Arbeiter.innenschaft einen gesellschaftlichen Grundkonflikt. Hier ging es nicht allein um parlamentarische Verfahrensfragen, sondern auch um die Partizipation in Betrieb und Arbeitswelt. Die Arbeiter:innenbewegung entwickelte kollektive Aktions- und Organisationsformen sowie Deutungsmuster, die schon im Kaiserreich mit der Repräsentationsproblematik der „oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens“ (Robert Michels) konfrontiert waren. Auch die strukturelle In- und Exklusion von verschiedenen Akteursgruppen lässt eine lineare Aufstiegsgeschichte von Organisationen eben so wenig zu wie eine lineare Zerfallsgeschichte der Gewerkschaften seit den 1970er Jahren.
Aus der Zivilgesellschaft ist in den letzten Jahren auf der einen Seite ein Wunsch nach demokratischer Partizipation gewachsen, zugleich sind Politikverdrossenheit und -skepsis zu spüren. Einst „linke“ Fragen nach partizipativen Vergesellschaftungsformen werden nicht zuletzt in Diskussionen um alternative Arbeitsmodelle neu gestellt.
Die Beiträge der Sektion diskutieren, welche Rolle Konflikte innerhalb der Arbeitswelt bei der Entwicklung der Demokratie in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert gespielt haben. Konkret: Welche Formen demokratischer Partizipation haben Menschen sich seither „erarbeitet“, was wurde gewonnen, was verloren? Wie beeinflusste „Arbeit“ das Verständnis von Demokratie? Basierend auf Impulsen einer erneuerten (Global) Labour History fragen wir, ob man die Geschichte der Demokratie heute wirklich jenseits des Gegensatzes von Kapital und Arbeit schreiben kann.
In Abgrenzung zum exkludierenden Heimatrecht und zur bürgerlich-nationalen „Heimat“ bildete sich im Kaiserreich ein sozialistisches Heimatverständnis heraus, das „Heimat“ zu demokratisieren versprach und um Arbeitsverhältnisse und Solidaritätsbeziehungen kreiste. Spätestens in der Weimarer Republik orientierte sich das sozialistische Heimatverständnis jedoch teilweise an einem unhinterfragten Volksbegriff. Der Vortrag analysiert das Changieren sozialistischer Heimatvorstellungen zwischen Zugehörigkeitsversprechen und Sehnsucht nach unproblematischer Identität. Er diskutiert, inwiefern dieses Spannungsfeld beispielhaft für das Verhältnis von „Arbeit“ und „Demokratie“ stehen kann.
Im Ringen um „Massengesellschaft“ und Demokratie der 1950er Jahre nahmen Intellektuelle, Werktätige und Gewerkschaftler ähnliche Herausforderungen wahr, auf die sie parallel antworteten: Gegen wachsende administrative Kontrolle betonten sie die demokratische Mitgestaltung aller Lebenssphären. Während Arbeitende dieses Bedürfnis am Arbeitsplatz sichtbar machten, wurden „Arbeiter“ zu einem Objekt des intellektuellen Interesses und „Managertum“-contra-„Mitbestimmung“ zu einem Feld des sozialen Imaginären. Dies wird anhand zweier DGB-naher Projekte erläutert: der „Europäischen Gespräche“ der Ruhrfestspiele und der industriesoziologischen Untersuchung „Arbeiter, Manager, Mitbestimmung“ des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des DGB.
Mit der Deutschen Einheit trafen verschiedene Ausformungen der Geschlechterordnung aufeinander: Galt in der DDR die Gleichberechtigung als Staatsdoktrin weitgehend umgesetzt, trugen Gewerkschafter:innen in der Bundesrepublik diese noch als unerreichtes Ideal vor sich her. Dennoch offenbarte die ‚Gewerkschaftseinheit‘ auch geteilte Kontinuitäten. Diskrepanzen zwischen hehren gewerkschaftlichen Ansprüchen nach gleichgestellter Partizipation und deren Übersetzung im Gewerkschaftsalltag herrschten Ost wie West. Die Wahrnehmung einer sozioökonomischen Vereinigungskrise diente dabei nur als Katalysator für die Beharrungskraft von exklusiveren Traditionsbeständen in der männlich dominierten IG Metall.
Kapitalistische Unternehmen sind per se nicht demokratisch, doch wird stetig um Partizipation gerungen. Nach der stärkeren Verknüpfung von Lohnarbeit, sozialer Sicherung und demokratischer Einflussnahme ab 1945 wurde Demokratie nicht nur in der Bundesrepublik ab 1985 beschnitten: durch Etablierung von „Welten der Arbeitsbeziehungen“, Prekarisierung und die Abkehr von kollektiver Standardsetzung. Angesichts neoliberaler Sachzwanglogiken – wer ist das Gegenüber von Betriebsräten und Gewerkschaften? (Wie) lässt sich mehr Demokratie durchsetzen?