Das Ende des Originals? Quellenkritik genuin elektronischer „Quellen“ in Archiven sowie in der historischen Forschung und Lehre
Abstract
Genuin elektronische „Quellen“ unterscheiden sich fundamental von analogem historischen Material: Sie treten meist in großen Mengen auf (Stichwort „Big Data“), sind in dynamische und relationale Datenbankstrukturen sowie vernetzte Hard- wie Softwareumgebungen eingebettet. Kontextinformationen in Form von Metadaten sind daher essentiell für das Verständnis der überlieferten Information. Auch die Archivierungsprozesse – die Bewertung und Übernahme, die Strukturierung zu Erschließungsobjekten, Migrationsprozesse und die (Online-)Bereitstellung – verändern die Daten in Struktur und Ansicht. Genuin elektronische „Quellen“ sind somit fluide, variabel und in mehrfachen Repräsentationen vorhanden.
Damit werden in der Geschichtswissenschaft sicher geglaubte Parameter in Frage gestellt: Das Konzept des „Originals“ scheint obsolet. Braucht es zur Bescheinigung von „Authentizität“ oder „Echtheit“ genuin digitaler Unterlagen neuer Begrifflichkeiten und Methoden? Liefern Archive künftig nur noch „fragile Fakten“? Wie kann eine quellenbasierte und methodengeleitete Geschichtswissenschaft unter diesen Umständen valide Forschungsergebnisse produzieren? Welche Kompetenzen müssen vermittelt werden, damit Historiker*innen genuin elektronisches Material kritisch auswerten und in datenbasierten Narrativen präsentieren können?
In der Sektion „Das Ende des Originals?“ sollen die Herausforderungen durch genuin elektronische „Quellen“ in Archiven sowie in der historischen Forschung und Lehre beispielhaft problematisiert und diskutiert werden. Ganz bewusst ist dieses Panel als Dialog zwischen dem Archivwesen und der Geschichtswissenschaft angelegt. Betrachtet werden sollen die Entstehung von künftigem historischen Material in digitalen Prozessen von Behörden, die Archivierungs- und Authentifizierungsprozesse, Methoden der Forschung auf der Basis von genuin elektronischen „Quellen“, hier von Websites, sowie Anforderungen an eine historische Datenkritik in der universitären Lehre.
Eine digitale Quellenkritik wird zuerst einmal die digitalen Überlieferungsobjekte in den Blick nehmen: Textdateien, Bilddateien, Datenbanken, Websites, Tweets etc. Diese objektbezogene Perspektive wird jedoch von begrenzter Aussagekraft bleiben, wenn sie nicht um eine organisationsbezogene Perspektive ergänzt wird. Digitale Quellen entstehen als Produkt einer digitalen Verwaltungspraxis. Verwaltung arbeitet im digitalen Zeitalter aber anders als in der vordigitalen Neuzeit und dieser Unterschied hat erhebliche Konsequenzen für die Quellenkritik: Die Auflösung der Aktenform, die Pluralität von Schriftgutverwaltungssystemen, der Bedeutungsgewinn von massenhaften und/oder vernetzten Einzelinformationen u.ä.m. sind wichtige Grundlagen einer zukünftigen Quellenkritik.
Auch Archivar:innen sind durch genuin digitale Unterlagen herausgefordert, ihr methodisches Instrumentarium zu hinterfragen. Aufgrund der spezifischen Eigenschaften von born digitals greifen Archivar:innen im gesamten archivischen Arbeitsprozess viel stärker in die Unterlagen ein. Sie treffen Entscheidungen, die Auswirkungen auf die späteren Nutzungs- und Auswertungsmöglichkeiten haben. Was tun Archivar:innen, um angesichts der „fluiden“ Beschaffenheit von born digitals verlässliche Quellen zu bewahren? Lässt sich das „Vetorecht der Quellen“ ins digitale Zeitalter retten? Oder müssen wir uns mit „fragilen Fakten“ arrangieren?
Web archives as “born digital” source collections come with multiple biases, both concerning the archived web pages and web sites themselves, the web collections (notably those created on precise events, like Paris terrorist attacks and the COVID-crisis), and the metadata. After explaining why web archives must be considered as a “reborn digital heritage” (Brügger,2016) and the multi-layered socio-technical transformations and mediations that are inherent to the archiving of the Web, the presentation will focus on scholary strategies to face such uncertainties, including best practices in documentation, scalable reading, and online source criticism.
Bislang fehlt nicht nur eine umfassende und methodengeleitete Quellenkunde für genuin elektronisches Archivgut, sondern es mangelt auch an „best practices“ für eine Didaktik der Digitalen Hermeneutik sowie an pädagogischen Angeboten zum Erlernen und praktischen Einüben einer „multimodal digital literacy“ in den Geschichtswissenschaften. Der Vortrag reflektiert Erfahrungen mit dem Aufbau des online-Portals zur digitalen Quellenkritik https://ranke2.uni.lu an der Universität Luxemburg. Zudem werden bisherige Nutzung im Bereich der akademischen Lehre und dem universitären Selbststudium kritisch evaluiert.