Martin Munke Stefan Wiederkehr (Sektionsleitung)

Citizen Science und die historischen Fakten

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Abstract

Forschung außerhalb der Universitäten und bürgerschaftliches Engagement, das in Veröffentlichungen mündet, haben in den Geschichtswissenschaften eine lange Tradition. Die Digitalisierung verändert die Voraussetzungen für die historische Forschung von ehrenamtlich wissenschaftlich Tätigen, das Aufkommen von Public History und die aus den Naturwissenschaften kommende Citizen-Science-Bewegung rücken diese in ein neues Licht.

Die Sektion analysiert die Produktion, Generierung, Interpretation und Verknüpfung historischer Fakten durch Citizen Scientists sowie die Modellierung dieser Fakten als Daten. Die Erstellung von Daten mittels Crowdsourcing profitiert von der großen Zahl Freiwilliger in der digitalen Welt, die Zeit in entsprechende Projekte investieren. Es stellt sich aber die Frage nach der Datenqualität und nach dem Bias des entstehenden Corpus, wenn die Citizen Scientists Schwerpunkte aufgrund ihrer außerwissenschaftlichen Interessen setzen. Das gilt für Transkriptionen ebenso wie für Erschließungsdaten in Gedächtniseinrichtungen oder Datenobjekte und deren Verknüpfung im Wikiversum. In Ausstellungen mit Beteiligung von Citizen Scientists und beim Nachspielen historischer Ereignisse stehen die Interpretation von vermeintlich gesicherten Fakten und die Produktion neuer Fakten in einem komplexen Wechselverhältnis. In der Zusammenarbeit mit Citizen Scientists gilt es für hauptberufliche Historikerinnen und Historiker ebenso wie für Gedächtniseinrichtungen, immer wieder neu zu entscheiden, wann und wie Qualitätsmanagement betrieben und wissenschaftliche Standards durchgesetzt werden sollen, ohne dass die Motivation und das historische Interesse der Freiwilligen verloren gehen und das bürgerwissenschaftliche Engagement gebremst wird.

Ulrike Jureit (Hamburg)
Fiktion des Faktischen. Bedeutungsgenerierung und Authentizitätsanspruch im Reenactment

Das Wieder-Aufführen historischer Ereignisse gehört mittlerweile zu den populären Formen der Geschichtsaneignung. Ob als ambitioniertes Kriegsspiel oder didaktisch aufbereitetes Storytelling – Reenactment und Living History sind von Laien praktizierte Formen des Geschichtskonsums, die im öffentlichen Raum historische Fakten in szenische Darstellungen transferieren, dadurch Bedeutungen von Vergangenheiten generieren und ihre zur Anschauung gebrachten Geschichtsbilder auch noch als authentisch ausgeben. Weitgehend losgelöst von der Zunft etabliert sich damit die Vorstellung, Vergangenheit könne auf diese oder vergleichbare Weise lebendig gehalten und Hier und Jetzt körperlich erlebt werden.

 

Hendrikje Carius (Erfurt/Gotha)
Citizen Scientists gestalten historische Ausstellungen. Praktiken und Perspektive

Das Ausstellungswesen unterliegt einem Paradigmenwechsel, der bis zum Einbezug von Citizen Scientists reicht. Die Erweiterung von Ausstellungen in den digitalen Raum befördert solche Beteiligungsmöglichkeiten. Dies hat Rückwirkung auf die Wahrnehmung von Ausstellungen als Aushandlungsort gesellschaftlicher Diskurse, zumal digitale Ausstellungen potenziell dauerhaft verfügbar sowie erweiterbar sind und Fakten immer wieder neu ausgehandelt und dargestellt werden können. Der Vortrag nimmt Ansätze partizipativer Praktiken bei der Ausstellungskuratierung in den Blick und beleuchtet diese in ihrer Ausgestaltung der Wissenschaftskommunikation sowie dem Umgang mit historischen Fakten und Daten.

Thekla Kluttig (Leipzig)
5000 Testamente. Besserer Zugang zu Archivgut via Citizen Science?

Online zugängliche Verzeichnungsinformationen von Archiven sind oft nur Metadaten aus einer „einfachen Verzeichnung“ – Archivaliensignatur, Aktentitel und Datierung müssen ausreichen, weil für präziseres die Arbeitszeit fehlt. Seit einigen Jahren hat die Einbeziehung von interessierten Freiwilligen an Bedeutung gewonnen: Sie erfassen weitere Angaben, die Recherchen deutlich erleichtern können. Wie kann die Historische Wissenschaft von dieser Entwicklung profitieren? Im Vortrag wird dieser und weiteren Fragen anhand von Beispielen aus der Praxis nachgegangen, darunter einem Projekt zur Erfassung von Testamenten aus dem Zeitraum 1696 bis 1829 aus dem Amt Leipzig.

Stefan Wiederkehr (Zürich)
Citizen Scientists für die Forschung transkribieren lassen: Chancen und Risiken

In den letzten Jahren ist von Forschenden und Gedächtniseinrichtungen eine ganze Reihe von Crowdsourcing-Projekten ins Leben gerufen worden, bei denen Citizen Scientists online maschinenlesbare Transkriptionen erstellen oder verbessern. Wie aber steht es um die Qualität der Transkriptionen? Welchen Einfluss auf Kanonbildung und Bias des entstehenden Textcorpus haben die Interessenschwerpunkte der Citizen Scientists? Wie lassen sich die Ziele des Community Managements mit den wissenschaftlichen Fragestellungen in Einklang bringen? Der Vortrag bettet die Erfahrungen, die mit dem Transkriptionstool der Schweizer Plattform e-manuscripta gemacht wurden in den internationalen Kontext ein.

Martin Munke (Dresden)
Landesgeschichte, Citizen Science und das Wikiversum. Ansätze, Möglichkeiten und Herausforderungen

Das Verhältnis der Geschichtswissenschaft zur Wikipedia als weltgrößtem Citizen-Science-Projekt ist ein ambivalentes und fragiles. Zugleich bieten sich hier für Forschung/Lehre und für Forschungsinfrastruktureinrichtungen Möglichkeiten, eigene Fragestellungen in gesellschaftliche relevante und breit rezipierte Kontexte einzubringen – v. a. wenn neben der Wikipedia weitere Portale des sog. Wikiversums mit in den Blick genommen werden. Im Vortrag wird dargestellt, wie gerade ein landeshistorischer Fokus helfen kann, hier aktuelle Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft – Digital Humanities, Datafication, Public History – öffentlich sichtbar zu machen und davon beidseitig zu profitieren.

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