Above and Below: Räume, Infrastrukturen und die soziale Ordnung der Moderne
Abstract
Das Panel diskutiert die Rolle von Infrastrukturen in Entwürfen sozial-räumlicher Ordnung im 19. und 20. Jahrhundert. Ober- und unterirdische Infrastrukturen der Mobilität, Logistik, Energieversorgung sowie der stofflichen Ver- und Entsorgung ermöglichten das Funktionieren der globalisierten Weltwirtschaft und von privaten Haushalten; sie waren auch untrennbar mit Selbstverständigungsprozessen von Gesellschaften verbunden. Zu denken ist an den Ein- und Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen beim Bau von Trinkwassernetzen, die Speicherung von Machtverhältnissen in kolonialen Infrastrukturen oder die Aushandlung sozialer Differenzkategorien in der Nutzung und Wartung von urbanen Beleuchtungsinfrastrukturen sowie der Verkehrserziehung und -pädagogik. Im 19. und 20. Jahrhundert bildeten Infrastrukturen ein Experimentierfeld, in dem (konkurrierende) Gruppen Normen ihres Zusammenlebens bestimmten. Während der Zusammenhang von Infrastrukturen und sozialen Ordnungen bereits untersucht worden ist, wissen wir noch wenig über die räumliche Dimension dieser Prozesse. Eine solche Akzentverschiebung scheint überfällig, bestimmten und verräumlichten moderne Gesellschaften anhand von Infrastrukturen doch auch Leitdifferenzen des westlichen Denkens wie das Verhältnis von oben und unten. Inspiriert von aktuellen Debatten um Raum und Räumlichkeit von Infrastrukturen und ausgehend von neueren Erkenntnissen der (kolonialen) Stadt-, Umwelt- und Technikgeschichte fragt das Panel danach, was wir besser oder genauer sehen, wenn wir Infrastrukturen in ihren Höhen, Breiten und Tiefen untersuchen, und welche Implikationen diese Perspektive für die Untersuchung sozialer Ordnungsprozesse hat. Dabei diskutieren die Panellisten auch die Folgerungen dieser Perspektivverlagerung für die Geschichte der Planung, Steuerung, Nutzung und Instandhaltung von Infrastrukturen. Insgesamt bündelt das Panel aktuelle Forschungen in diesem Feld und trägt zu ihrer Weiterentwicklung bei.
Wie veränderte sich soziales Handeln durch die Einführung neuer Infrastrukturen und wie beeinflusste dieser Prozess die Transformation gesellschaftlicher Leitvorstellungen im 19. Jahrhundert? Der Vortrag untersucht die Geschichte der Nutzung von Wasserinfrastrukturen in Los Angeles zwischen 1850 und 1900. Konkret fragt er nach dem Verhältnis von infrastrukturellem Alltag und Prozessen des Ein- und Ausschlusses mit einem Schwerpunkt auf der Räumlichkeit von parallel existierenden offenen Wassergräben (den Zanjas) und unterirdischen Wasserleitungen. Im Mittelpunkt stehen Verteilungskämpfte um die knappe Ressource Wasser sowie Debatten darum, wem wieviel Wasser zustand und was unter „normalem“ Konsum zu verstehen war.
Als der Staudamm von Édéa 1953 im UN-Mandatsgebiet Französisch Kamerun eingeweiht wurde, war der Löwenanteil der dort erzeugten Energie bereits verplant. Die französischen Aluminiumunternehmen Péchiney und Ugine hatten sich Strom und weiteren Ausbau des Kraftwerks zu einem Spottpreis gesichert. Im Rückgriff auf aktuelle Debatten zu Verräumlichungsprozessen von Infrastrukturen interessiert sich der Vortrag dafür, wie denn die räumlich-soziale Ordnung beschaffen war, die Staudamm, die dazu gehörigen Transportinfrastrukturen sowie die Nutzung der Wasserenergie zur Verhüttung von aus Frankreich angelandeten Bauxits konstituierten. Da die in Édéa erzeugte Wasserenergie so zur extrahierten Ressource wurde, ist der Staudamm zudem ein Beispiel des in der Politikwissenschaft intensiv diskutierten Themas energy colonialism.
Die Straßen als solche erlangte bislang wenig historische Bedeutung. Sie ist Teil technikhistorischer Betrachtungen einer Infrastruktur, auf der etwas geschieht, wie etwa der moderne Automobilismus. Selten geht es um das darunter. Gleichzeitig ist die Straße das wesentliche Ordnungselement moderner Gesellschaften um die Beziehung von politischen, sozialen und ökologischen Prozessen über und unter der Erdoberfläche zu bestimmen und lenken, sei es der Sturzregen oder die Rattenplage, überbaute Bäche als Plattform für Schnellstraßen oder sozial in den Untergrund verbannte, wie Obdachlose oder Kleinkriminelle. Ausgehend von der Straße als semi-permeable Membran zwischen Oben und Unten in den Städten der Industriemoderne, nähert sich dieser Beitrag auch einer historischen Betrachtung der Vertikale.
Anhand des Wandels der Verkehrserziehung in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1950 und 1975 untersucht der Vortrag, wie sich die am Straßenverkehr als einem emblematischen Infrastruktursystem der Moderne verhandelten sozialen Ordnungsvorstellungen in der Herausbildung spezifischer Nutzungsweisen und Versuchen der Verhaltensnormierung niederschlugen. Vor dem Hintergrund rasant steigender Unfallzahlen und in expliziter Abgrenzung zum NS-Regime konzipierte die Verkehrserziehung in der jungen Bundesrepublik der Massenmotorisierung die Straße als Ort demokratischer Bewährung. Sie entwarf die Figur des demokratischen Staatsbürgers, der sich aus eigener Einsicht und freien Stücken den Verkehrsregeln unterordnete und aufmerksam gegenüber den Mitbürgern verhielt. Wegen Zweifeln an der Wirksamkeit des Ansatzes verabschiedete die Verkehrserziehung ab Mitte der 1960er Jahre das staatsbürgerschaftliche Ethos jedoch allmählich aus ihrem Programm und arbeitete fortan mit einer Rhetorik des Zwischenmenschlichen. Aus der Verantwortung in einer Gemeinschaft von Demokraten wurde die Verantwortung gegenüber „Partnern“. Diese Entwicklung schlug sich unter anderem in einem räumlichen Perspektivwechsel in der Darstellung von Verkehrssituationen nieder, der den zugrundeliegenden Vorstellungen sozialer Ordnung entsprach und zugleich sinnbildlich die gesellschaftlichen Liberalisierungs- und Individualisierungstendenzen in der Bundesrepublik zum Ausdruck brachte.