Vom Glauben zum Wissen? Zur Epistemologie des Hörens in der Frühen Neuzeit/ From Belief to Knowledge? On the Epistemologies of Hearing in the Early Modern Era

(Andreas Bähr, Berlin, Jan-Friedrich Missfelder, Zürich)

Andreas Bähr, Jan-Friedrich Missfelder:
Einführung

Anna Kví alová, Berlin:
Creating Hearing Difference: Deafness, Disability and Hardness of Hearing in Reformation Geneva

Jan-Friedrich Missfelder, Zürich:
Der Geisterhörer. Gespensterkommunikation in der Reformation

Andreas Bähr, Berlin:
Innere Stimmen und göttliches Getöse. Zur divinatorischen Macht des Akustischen im 17. Jahrhundert

Lyndal Roper, Oxford:
Kommentar

 

 

Abstracts (scroll down for english version)

Ein bis heute wirkmächtiges Narrativ will es, dass die Moderne ihr Wissen über das Sehen gewinnt. Das zeichne sie als fortschrittlich gegenüber einer Vormoderne aus, die sich noch weitgehend auf Hören und Hörensagen verließ und so über das Glauben, im Sinne des bloßen Meinens, nicht hinausgekommen sei. Bestätigung bezieht das Theorem etwa aus dem lutherischen Paradigma des fides ex auditu: aus dem protestantischen Gedanken, dass nicht nur innerweltliches Wissen, sondern vor allem auch der religiöse Glaube sich im Entscheidenden aus dem Hören speiste – und zu speisen hatte. Das zugrundeliegende Geschichtsbild verlässt sich auf modernisierungs- und säkularisierungstheoretische Vorannahmen und ist als great divide theory in die Geschichte (der Sinne) eingegangen. In dieser Perspektive bleibt jedoch ungeklärt, welche spezifische epistemologische Bedeutung das Hören für religiöse und säkulare Wissensbestände ebenso wie für deren vielfältige Überschneidungen besaß.

Die Sektion fragt nach dem Stellenwert des Ohres als Erkenntnisorgan in der Frühen Neuzeit. Welche epistemologischen Funktionen kamen dem Hören bei der Gewinnung von Wissen ebenso wie bei seiner Verbreitung zu? Wie wurde die Differenz zwischen Glauben und Wissen sensorisch produziert? Die Beiträge fragen zunächst nach dem frühneuzeitlichen Wissen vom Hören, um damit zu erschließen, welches Wissen durch das Hören gewonnen wurde – und auf welche Weise dies geschah. Mit den auditiven Wegen zur Wahrheit und zum Heil diskutieren sie dann immer auch, wie sich in der Frühen Neuzeit das Verhältnis von Wissen und Glauben bestimmte sowie das Wissen über den Glauben gestaltete. Besondere Virulenz entfalten diese Fragen mit Blick auf die „Kanäle“, durch die sich göttliche und teuflische Mächte Gehör verschafften, ebenso wie in der Problematik der physiologischen Taubheit.

Anna Kvíčalová, Berlin:
Creating Hearing Difference: Gehörlosigkeit, Behinderung und Schwerhörigkeit in Genf während der Reformationszeit
Obwohl Auseinandersetzungen mit der Reformationszeit oftmals deren Fokussierung auf das Hören und Sprechen religiöser Instruktionen betonen, wurde dem Thema Gehörlosigkeit in diesem Kontext bisher wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt. Dieser Beitrag beschäftigt sich daher mit dem Phänomen der Schwerhörigkeit im frühen Genfer Calvinismus und beleuchtet den damit einhergehenden Entstehungsprozess neuer sinnlicher Kommunikationsformen. Ein Blick auf die Stellung Schwerhöriger und Gehörloser in diesem neuen System der Verteilung religiösen Wissens erlaubt eine Vertiefung und Revision des Verständnisses von der Rolle des Hörens und Sprechens in der calvinistischen Epistemologie und hinterfragt damit zugleich das tiefsitzende historiographische Einverständnis, dass Gehörlose und Schwerhörige marginalisiert und vom Erlösungsversprechen im Europa des 16. Jahrhunderts ausgeschlossen waren. Zudem ermöglicht eine Analyse der Kategorien Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit eine eingehendere Betrachtung der Entstehung neuer Sinnes- und Körpernormierungen im calvinistischen Genf: Besonders hier wurde Gehörlosigkeit nie als eine rein körperliche Beeinträchtigung verstanden, sondern kann vielmehr als Resultat eines Wechselspiels zwischen dem physischen Körper und seiner sozialen Umwelt, repräsentiert durch neu geschaffene religiöse Normen, gesehen werden. In den Genfer Primärquellen steht Gehörlosigkeit für eine große Bandbreite an Hörbeeinträchtigungen und ist oft nicht zu unterscheiden von Eigenschaften wie Vergesslichkeit, Unaufmerksamkeit oder Intelligenzminderung. Dieser Beitrag möchte somit zeigen, dass Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit nicht nur eine spezifische Stellung innerhalb der calvinistischen Epistemologie einnahmen, sondern dass diese Phänomene hier gleichzeitig neu definiert und konstruiert wurden – und dies alles vor dem Hintergrund eines Regimes der Sinnesregulierung, in dem neue Regeln für die auditive Kommunikation religiösen Wissens und neue Normierungen des Zuhörens eingeführt wurden.

Andreas Bähr, Berlin:
Innere Stimmen und göttliches Getöse. Zur divinatorischen Macht des Akustischen im 17. Jahrhundert
Wer auf Basis auditiver oder visueller Erscheinungen Aussagen über künftiges Geschehen zu machen proklamierte, stand in der Frühen Neuzeit unter großem Beglaubigungsdruck; denn Göttliches war stets von Natürlichem und – wichtiger noch – von Teuflischem zu unterscheiden. Dies gilt bereits für das 16. Jahrhundert, das selbsternannten Propheten mit zunehmendem Misstrauen begegnete; erst recht aber gilt es für das 17. Jahrhundert, in dem eine erfahrungsbezogene Medizin ihren Deutungsanspruch auszubauen begann und eine vermehrte Pathologisierung des Stimmenhörens und divinatorischen Träumens zu beobachten ist. In diesem Horizont konnten nonverbale akustische Phänomene epistemologische „Verstärker“-Funktionen entfalten. Dies zeigt sich beispielsweise in pietistischen Konversionserzählungen, in denen innerliches Glockengeläut und „Rumoren“ die Göttlichkeit herzenszerknirschender Bekehrungsaufforderungen unterstreicht und so als buchstäblicher „Buß-Wecker“ fungiert. Es zeigt sich aber auch am anderen Ende des konfessionellen Spektrums: in der Autobiographie des Jesuiten Athanasius Kircher, den 1631 in Würzburg ein innerliches Getöse aus dem Schlaf gerissen habe, um sein Ordenskolleg – vermittelt über eine angeschlossene Wachvision – vor dem bevorstehenden Angriff Gustav Adolfs von Schweden zu warnen. Kircher, der sich nicht nur intensiv mit akustischen Verstärker-Systemen beschäftigte, sondern auch mit der körperlichen Macht und Gewalt von Tönen, Klängen und Geräuschen, ist ein besonders signifikantes Beispiel für das divinatorische Potential des Auditiven im 17. Jahrhundert. Dieses wiederum lässt nicht auf einen frühneuzeitlichen Primat des Hörens gegenüber dem Sehen schließen, sondern auf deren spezifisches und komplementäres Verhältnis.

Abstracts (English version)
According to one of the most enduring and powerful meta-historical narratives, knowledge in modernity is obtained through the sense of sight. Premodern times were, on the contrary, allegedly charactarised by the reliance upon hearing and hearsay leading, rather, to belief and stagnation instead of knowledge and progress. In the religious sphere, the Lutheran maxim fides ex auditu informed the Protestant dogma that faith exclusively depended upon hearing the word of God. In the history of the senses, this contradiction resulted in the infamous great divide theory with its strong undercurrents of modernisation and secularisation theory linking sight to (scientific) reason and, instead, hearing to religious faith. What is largely ignored in this perspective is the specific epistemological status of hearing with respect to both religious and secular knowledge and their various overlaps.

Our panel seeks to investigate the role of the ear as an organ and instrument of knowlegde in the early modern period. We ask for its epistemological functions in the process of gaining and distributing religious and scientific knowledge. How was the difference between knowledge and belief produced sensorially? We are equally interested in forms of knowledge about hearing as in the ways in which knowledge was produced through hearing. By tracking the auditive paths to truth and salvation alike, the papers seek to analyse the specifically early modern relations between faith and knowledge as well as the early modern ways of knowledge about (religious) faith. In this resepct, the auditory „channels“ and media of knowledge through which God and the devil made themselves heard deserve particular attention: preachers’ voices, inner voices and ghosts’ voices demanding close historical listening.

Anna Kvíčalová, Berlin:
Creating Hearing Difference: Deafness, Disability and Hardness of Hearing in Reformation Geneva
Despite the Reformation often being associated with the centrality of hearing and spoken religious instruction, the topic of deafness has received only marginal scholarly attention in this context. This paper proposes to put hearing disability at the center of research on early Calvinism in Geneva, arguing that it allows us to observe the process by which new patterns of sensory communication were fashioned after the Reformation. On the one hand, attending to the position of the deaf and hard of hearing in the new system of distribution of religious knowledge deepens and revises our understanding of the role of hearing and speaking in Calvinist epistemology, and challenges the ingrained historiographical notion that the deaf and hard of hearing were marginalized and generally excluded from salvation in sixteenth-century Europe. On the other hand, exploring the parameters of the categories of deafness and hardness of hearing brings us to the heart of the process by which new norms of bodily conduct and sense perception were fashioned in Calvinist Geneva. Especially as regards this second aspect, deafness is never understood as a purely physical impairment but may be interpreted as result of the interplay between the physical body and its social environment, the latter in this case most clearly represented by the newly constructed religious norms. In the Genevan primary sources deafness stands for a wide range of hearing disabilities and is often indistinguishable from characteristics such as forgetfulness, inattention, or lack of intelligence. This paper thus argues that deafness and hardness of hearing not only occupied a specific place in Calvinist epistemology, but also were defined and constructed afresh in the new regime of the management of the senses, where new rules for the auditory communication of religious knowledge and standards of listening were introduced.

Andreas Bähr, Berlin:
Hearing God’s Noise: On the Divinatory Power of Sounds in the Seventeenth Century
In the early modern era, those proclaiming to know the future from auditory or visual apparitions were under significant pressure to authenticate their assertions, as divine messages were considered to be categorically different from natural occurrences and, more importantly, diabolical instigations. This was true already of the sixteenth century when contemporaries were becoming suspicious of „false prophets“. It was even more the case, however, in the seventeenth century, when theologians were increasingly losing ground against physicians who pathologised those who believed to hear divine voices and to dream divinatory dreams. Against this background, nonverbal acoustic phenomena could serve as epistemological „amplifiers“. For example, in Pietist conversion narratives, bells heard only by the believers themselves were considered to be a call to do penance. In a similar vein, the Jesuit Athanasius Kircher wrote how in Würzburg in 1631 he was woken by an inner noise which warned him and his confreres of the imminent attack by the Swedish forces led by Gustavus Adolphus. The works of Kircher, who took a peculiar interest not only in acoustic amplification but also in the physical power and violence of sounds, are particularly indicative of the divinatory potential of auditory phenomena in the seventeenth century. This is not to say, however, that, in terms of historical epistemology, the early modern ear was more important than the eye, but that the two senses were seen to complement each other.