Die Russische Revolution 1917. Rückblick und Ausblick 2017 / The Russian Revolution 1917. Retrospect and Prospect 2017

(VHD, Martin Aust, Bonn)

Podiumsdiskussion
-Ekaterina Makhotina, Bonn
-Ulrich Schmid, St. Gallen
-Martin Aust, Bonn
-Sandra Dahlke, Moskau

Abstract:

Diese Skizze eines roundtables über die Russische Revolution auf dem Historikertag 2016 in Hamburg geht von der Prämisse aus, dass das Format nicht allein Russlandhistoriker adressieren soll. Gefragt sind konzeptionelle Zugänge, die auf Revolutionen anderer Regionen und Zeiten übertragbar sind und damit Historikerinnen und Historiker insgesamt ansprechen. Der skizzierte roundtable diskutiert somit die Spannungsverhältnisse von Forschung und Synthese sowie Erinnerung und Zukunft.

Von den Synthesen der Russischen Revolution anläßlich ihres 100. Jahrestages ist zu erwarten, dass sie die Kluft zwischen den vorliegenden Überblicksdarstellungen und den jüngeren Forschungen der letzten beiden Jahrzehnte füllen. Die Revolutionssynthesen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spiegeln mehrere Paradigmenwechsel wieder: von der Politikgeschichte (Richard Pipes) über die Sozialgeschichte (Dietrich Geyer, Sheila Fitzpatrick) zur Kulturgeschichte (Orlando Figes) – ihnen allen gemeinsam ist jedoch ein Fokus auf die russischen Zentren Petrograd und Moskau sowie Zentralrussland. Die Forschungen der letzten zwanzig Jahre haben demgegenüber tiefe Einblicke in räumliche Dimensionen eröffnet. Die Geschichte von Regionen, Nationsbildungsprojekten, imperialer Herrschaft und Gewalträumen haben den Kenntnisstand der revolutionären Epoche Russlands von der ersten Revolution 1905 bis in die späten 1920er Jahre wesentlich erweitert. Von neueren Synthesen ist somit zu erwarten, dass sie eine Verknüpfung älterer russozentrischer politik- und sozialgeschichtlicher Narrative mit den Erkenntnissen der Raum- und Gewaltforschung im Maßstab des gesamten Imperiums vornehmen. Schwieriger stellt sich die Aufnahme jüngerer globalgeschichtlicher Ansätze von Revolutionsgeschichte in die Synthesen dar. Hier steht die Forschung noch an einem Anfang, der sich nur partiell synthetisieren läßt.

Parallel ist zu beobachten, dass neben globalgeschichtlichen Ansätze weitere neue Forschungsperspektiven für die Revolutionsgeschichte entworfen werden. Ein Beispiel ist die von Jan Plamper vorgeschlagene Verknüpfung der Revolutionsgeschichte mit der jungen Disziplin der sound studies. Sie verspricht eine Erfahrungsgeschichte der Revolution als Geschichte des Hörbaren. Es fällt in der Tat auf, dass die Geschichtsschreibung die Schilderung akustischer Eindrücke in der Revolutionsmemoiristik bislang nicht zum Thema gemacht hat. Auch die auditive Wirkung der Inszenierung neuer Herrschaftsentwürfe ist bislang nicht untersucht. Die Hörbarkeit der Revolution und die orientierende Wirkung des Gehörten in der Revolution sind somit ein eindringliches Beispiel, wie die Revolutionshistoriographie neue Forschungsperspektiven entwerfen kann.

Auf dem Feld der Revolutionserinnerung ist momentan vollkommen offen, ob der 100. Jahrestag der Oktoberrevolution 2017 eine geschichtspolitische Herausforderung des offiziellen Russlands darstellen wird. Putins Geschichtspolitik hat die selektive Nutzung der älteren ostslavischen, zarischen und sowjetischen Vergangenheiten, wie sie bereits in den 1990er Jahren zu beobachten war, verstärkt. Während beispielsweise die Amtseinführung des Präsidenten 2012 im Moskauer Kreml‘ architektonisch und in Gestalt der Uniformen der Kremlgarde die Zeiten des Petersburger Kaiserreiches aus dem 18. und 19. Jahrhundert evozierte, ruft der Tag des Sieges am 9. Mai stets die heldenhaften Siege der Roten Armee im sogenannten Großen Vaterländischen Krieg in Erinnerung. Auch die Annexion der Krim 2014 begleitete eine Geschichtspolitik, die umstandslos den Bogen von der Taufe der Rus‘ im 10. Jahrhundert bis hin zur Befreiung der Krim von nationalsozialistischer Besatzung im Zweiten Weltkrieg spannte. Mit der Oktoberrevolution gilt es ein Ereignis zu erinnern, das einen scharfen Bruch zwischen zwei Epochen russischer und sowjetsicher Geschichte darstellt, die bislang gleichermaßen vom aktuellen und offiziellen russischen Geschichtsdiskurs genutzt werden. Das läßt die Erinnerung an die Oktoberrevolution als einen geschichtspolitischen Drahtseilakt erscheinen. Es kann jedoch auch sein, dass dieser Beobachtung eine Kohärenzerwartung zugrundeliegt, die Putin nicht teilt. Interessant ist zumindest, dass das Museum des Ersten Weltkriegs in Puškin die Oktoberrevolution als ein Ereignis schildert, mit dem die Bol’ševiki das vermeintlich tapfer und erfolgreich kämpfende Russland aus dem Weltkrieg herausnahmen.

Das Stichwort Revolution prägt in Russland und der russischen Diaspora zur Zeit jedoch nicht allein den Blick in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft. In einem Interview, das per skype in einen Saal russischer Journalisten in Moskau übertragen wurde, äußerte Michail Chodorkovskij im Dezember 2015 die Einschätzung, eine Revolution sei in Russland unausweichlich und notwendig. Garri Kasparov gab die Einschätzung ab, der nächste Umbruch in Russland könne allein ein gewaltsamer sein. Boris Nemcov hingegen hat stets von einer Revolution in Russland abgeraten und sich überzeugt gegeben, in Russland müsse man lange leben, um Veränderungen herbeizuführen und zu erleben. Der allein noch im Internet operierende Fernsehkanal Dožd (Regen) sendet zur Zeit eine Serie Russland nach (Rossija posle). In den bislang ausgestrahlten drei Beiträgen wurden Szenarien von Kontinuität, Wandel und Umbruch von Staat, Territorium und Wirtschaft Russlands diskutiert. Auch die Literatur beteiligt sich an der Erkundung revolutionärer Zukunftsszenarien. In seinem Roman San’kja läßt Zachar Prilepin die Titelfigur am bewaffneten Aufstand einer patriotischen Untergrundgruppe gegen die Staatsgewalt teilhaben. 2016/17 über Russland und Revolution zu sprechen, wendet den Blick somit nicht allein in die Vergangenheit. Für die Geschichtswissenschaft ist es eine spannende Frage, russische Zukunftsdiskussionen dahingehend zu befragen, wie Narrative und Topoi der Revolutionserinnerung sich in das Nachdenken über die Zukunft einschreiben.