Sektion: Siege und Niederlagen, Irrtümer und Erkenntnisse. 30 Jahre Geschlechtergeschichte. Eine Bilanz (Leitung: Prof. Dr. Claudia Opitz-Belakhal)
Kommentar: Prof. Dr. Eva Labouvie, Institut für Geschichte, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

 

Eine Besonderheit der Geschlechterforschung – und damit auch der Geschlechtergeschichte – möchte ich gleich an erster Stelle herausstellen, weil sie mich selbst bis heute fasziniert und motiviert und zugleich den Vortrag von Karen Hagemann (Zur Situation der Geschlechtergeschichte in der BRD und den USA im Vergleich) anspricht: Geschlechterforschung war und ist nicht nur von Beginn an interdisziplinär, sondern international gewesen und mit ihr die Geschlechtergeschichte, die sich im „Arbeitskreis Historische Frauen- und Geschlechterforschung“ (AKHFG) sowohl bundesweit organisiert hat, als auch mit über 50 weiteren weltweiten Arbeitsgruppen zur historischen Genderforschung dem internationalen Dachverband der „International Federation of Research in Womens History“ (IFRWH) angehört. Geschlechterhistoriker und -historikerinnen teilen mit denen auf der ganzen Welt, aber auch mit den Geschlechterforschern und -forscherinnen in der Soziologie, Politologie, den Naturwissenschaften oder der Germanistik gemeinsame Axiome, Leitbegriffe und ein wissenschaftliches Vokabular. Eine solche interdisziplinäre wie internationale Verknüpfung bis hinein in die Wissenschaftssprache stellt eine Einmaligkeit, ja eine große Bereicherung innerhalb der, wie ich behaupte, weltweiten Wissenschaftslandschaft dar. Diese Besonderheit möchte ich unter „Siege“ verbuchen.

Im Sinne der Geschlechterforschung trat auch die Frauen- und Geschlechtergeschichte vor über 30 Jahren in Deutschland mit dem Anliegen an die wissenschaftliche Öffentlichkeit, die eigene Disziplin in Richtung einer kritischen Reflexion und Veränderung ihrer Theorien, Methoden, Inhalte und ihrer Wissenschaftskultur zu reformieren. Damit stand und steht sie bis heute nicht allein, denn zugleich mit ihrer Sichtbarwerdung in Deutschland standen ihr weitere Neulinge wie die Historische Anthropologie, die Mikrohistorie oder die schon betagtere Alltagsgeschichte zur Seite. Es ist kein Zufall und lässt sich aus der Entwicklung der Geschichtswissenschaft seit den 1960er Jahren rekonstruieren, dass es jenen neuen Perspektiven auf die Vergangenheit um die Erweiterung des Wissens, den Menschen als Akteur in der Geschichte, aber auch um die Infragestellung von Wissenshierarchien und -institutionen ging. Und es ist ebenfalls kein Zufall, dass bis zum letzten Jahr vier der fünf Professuren mit Denomination bzw. Teildenomination Geschlechtergeschichte Kolleginnen innehatten, die das 16. bis 19. Jahrhundert vertreten, gelangten doch die Ansätze etwa der Mikrogeschichte und Historischen Anthropologie durch Vertreter und Vertreterinnen dieser Jahrhunderte in die deutsche Geschichtswissenschaft. Ein Blick in die Geschichte, so zeigte es der Vortrag von Sylvia Paletschek (Gendering historiography? Historiographiegeschichte als Geschlechtergeschichte), lässt hier zwei mögliche Traditionen bzw. Affinitäten erkennen: Einmal die frühe Öffnung der ersten Historikerinnen und später dann der Geschlechterhistorikerinnen für neue, v.a. kultur- und genderhistorische Themen, zum andern beider Verortung vorwiegend im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, zwei Fachgebieten, die bis heute Experimentierfreudigkeit kennzeichnet. Ihre interdisziplinäre und internationale Eingebundenheit hat die Geschlechtergeschichte mitsamt ihrem Verbund mit den neuen geschichtswissenschaftlichen Ansätze weder vor Angriffen geschützt noch ihr eine schnelle Integration ins Fach beschert – ganz im Gegenteil. Freilich hat insbesondere die Internationalität der Geschlechtergeschichte ihr Überleben, d.h. das Durchhalten der ersten Generation deutscher Forscherinnen, befördert und die nächsten Generationen heranwachsen lassen. Ein gewisser Sieg also trotz der anfänglichen Niederlagen.

Die Entwicklung der Geschlechtergeschichte in Deutschland hat über mehrere Phasen in eine derzeitige Situation geführt, die ich mit den Begriffen ‚Verselbständigung‘ und ‚Verselbstverständlichung‘ charakterisieren möchte. Parallel weist sie aber immer noch jene Marginalisierungs- und Diskriminierungstendenzen ihrer Anfangsphase auf. ‚Verselbständigung‘ und ‚Verselbstverständlichung‘ mögen vordergründig als positive Entwicklungen erscheinen, weil geschlechtergeschichtliche Aspekte und Themen mehr an Raum in wissenschaftlichen – und auch in nicht wissenschaftlichen – Publikationen gewonnen haben. Doch sind sie keineswegs gleichzusetzen mit Akzeptanz oder gar Zugehörigkeit als vielmehr mit der schlichten Nutzung der Forschungsergebnisse und -ideen einer dennoch marginalisierten, gemiedenen und immer noch separierten Geschlechtergeschichte, die interessant, aber nicht zentral ist. Die Verselbständigung der Geschlechtergeschichte ist mithin Folge eines Prozesses, in welchem nicht mehr nur ausgewiesene Geschlechterhistorikerinnen und –historiker zu Frauen und Männern oder geschlechtsspezifischen Wahrnehmungen forschen und publizieren, sondern Kolleginnen und Kollegen, die sich keineswegs als Geschlechterhistoriker und -historikerinnen betrachten oder gar bezeichnen und sich entsprechende Kenntnisse auch nur vorübergehend und themenspezifisch aneignen. Ob mit diesem Trend der Abschein einer ‚Pseudonormalisierung‘ erzeugt wird, die glauben macht, eine eigenständige, institutionalisierte Geschlechtergeschichte sei mittlerweile überflüssig, bleibt zu überprüfen.

Dieser tendenziellen bzw. temporären Verselbständigung, die zur Multiplizierung in Forschung und Lehre hätte führen können, steht nun aber bis heute die „langue durée“ einer über 30 Jahre im Fach eingeübten Haltung zwischen Opposition und Konkurrenz gegenüber, die sich möglicherweise mit der von Angelika Schaser in ihrem Vortrag (Zur Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte in der Universitätslandschaft der BRD) angesprochenen Feminisierung der Geschlechtergeschichte seit den 1980er Jahren verstärkt hat. Feminisierung, Marginalisierung bzw. Präkarisierung, wie es Karen Hagemann für die Geschlechtergeschichte in der BRD und in den USA dargelegt hat, liegen wie bekannt sehr eng beieinander und haben, wie Sylvia Paletschek zeigen konnte, mit Blick auf deutsche Historikerinnen mit und ohne Genderforschung eine über 100-jährige Geschichte. So erstaunt nicht, dass man trotz der bemerkbaren Verselbständigungstendenzen in den 213 auf den ersten Blick im Internet zugänglichen Studiengangbeschreibungen zum Fach Geschichte an deutschen Universitäten gerade einmal bei fünf eine explizite Erwähnung von Geschlechtergeschichte oder Gender (Göttingen, Bochum, Jena, Magdeburg, Vechta) findet, obwohl ein entsprechendes Lehrangebot an weit mehr historischen Instituten offeriert wird. Benutzen ja, bekennen nein, verschleierte Selbstverständlichkeit oder selbstverständliche Verschleierung – Sieg oder Niederlage?

Eine gewisse Selbstverständlichkeit, nach der etwa ein Thema wie „Familie“, das in Form der historischen Familienforschung in den 1980er Jahren fast ausschließlich demographisch und überwiegend von männlichen Fachvertretern erforscht wurde, ohne Aspekte der Frauen-, Männer- und Geschlechtergeschichte heute nicht mehr so ohne Weiteres behandelt werden kann – das meint mein Begriff der ‚Verselbstverständlichung‘ – , hat einerseits die oben angesprochenen ‚Verselbständigungen‘ erzeugt. Es handelt sich übrigens um ein Phänomen, das auch auf die neuere Kulturgeschichte zutrifft, wenn man etwa den mittlerweile inflationären Gebrauch des Begriffs Kultur in Publikationstiteln und die unter diesem Label aufscheinenden Forschungsergebnisse genauer betrachtet. Ganz so einfach ist es bei der Geschlechtergeschichte nun aber nicht, oder anders formuliert: Auf die Buchdeckel der meisten historischen Werke haben es ihre Begrifflichkeiten eben gerade nicht geschafft. Denn sowohl die ‚Verselbständigung‘ – nicht nur fundierte und ausgewiesene GeschlechterhistorikerInnen, sondern auch andere – als auch die ‚Verselbstverständlichung‘ – man kommt bei manchen Themen nicht mehr drumrum – haben im Falle der Geschlechtergeschichte bei den Skeptikern und Gegnern weit deutlichere Vermeidungsstrategien bezüglich bestimmter Themen und Begrifflichkeiten erzeugt, aber auch neue Hierarchisierungen im Fach hervor gebracht, etwa mit der Klage, die eigentliche Geschichte werde zugunsten von Nebensächlichkeiten nicht ausreichend erforscht, bis hin zur Lancierung der Allgemein- und v.a. Globalgeschichte, mit denen sich Geschlechter-, aber auch Kulturgeschichte bis heute schwer tun.

Der Gegensatz zwischen einem gewissen Interesse Einzelner an den gar nicht so uninteressanten Themen der Geschlechtergeschichte und dem seit den 1970er Jahren durchgängig ablehnenden oder ignorierenden Habitus im Fach, aber auch das Paradox zwischen Zulassen – von Lehre, Dissertationen oder Habilitationen, die keine exotischen Vorhaben mehr darstellen – und Marginalisierung, Verschleierung bzw. Ablehnung – etwa bei Ausschreibung von Professuren und ihrer Besetzung oder bei Studiengangbeschreibungen – sind Kennzeichen der derzeitigen Phase einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die auf Verunsicherungen hinweist, aber solche auch erzeugt. Dabei spielen Hierarchien im Fach – sowohl zwischen den historischen Fachgebieten als auch den Positionen innerhalb eines Fachgebietes – eine erhebliche Rolle. So ist die als Fachgebiet sehr junge Frühe Neuzeit, die noch vor einem Jahr drei der fünf und momentan die Hälfte der Professuren mit Teildenomination bzw. Denomination Geschlechtergeschichte aufweist, das kleinste im Vergleich zu den weit größeren und einflussreicheren Fachgebieten Antike, Mittelalter und Neuzeit/Zeitgeschichte, so dass auf der Ebene der Fachkulturen von einer eher randständigen Duldung auszugehen ist. Die jüngsten Entwicklungen zeigen im Kontext der Ökonomisierung der Universitäten, dass aber auch diese Duldung nur eine temporäre zu sein scheint.

Was erreicht wurde, mag den Gegnern zu viel, den Aktiven zu wenig, den meisten der Zunft egal sein. Bescheiden ausgedrückt handelt es sich aber um die Sensibilisierung für ein neues Geschichtsbewusstsein, eine neue Kultur des Forschens und vom Forschen und um ein enormes Mehr an Wissen – in unserer heutigen Wissensgesellschaft das eigentliche A und O für Produktivität und Wachstum. Für die Geschlechtergeschichte in den USA und in einigen wenigen Ländern Europas mag das zum Teil zutreffen, für die Situation in Deutschland lässt sich das eine – eine bemerkenswerte Produktivität im Publizieren, Forschen, in der Lehre, im Organisieren von Tagungen und in der Betreuung des wissenschaftlichen Nachwuchses – durchaus belegen, nicht aber das andere – Wachstum vor allem über Institutionalisierung im eigenen Fach durch die Einrichtung von Professuren, Sonderforschungsbereichen, Graduiertenkollegs oder Studiengängen. An der Produktivität und am Wachstum derer, die sich mit Geschlechtergeschichte beschäftigen, kann also kein Zweifel bestehen: Nicht nur, dass der „Arbeitskreis Historische Frauen- und Geschlechterforschung“ im nächsten Jahr in Berlin sein 20-jähriges Bestehen begehen kann, vielmehr bekennen sich mittlerweile 58 Professorinnen (von den insgesamt ca. 130 Professorinnen des gesamten Faches) und Privatdozentinnen sowie 78 promovierte Historikerinnen durch ihre eingetragene Mitgliedschaft im AKHFG zur historischen Geschlechterforschung. Dabei wächst insbesondere der Anteil an Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern ständig, allein in den letzten zwei Jahren von 35 auf über 60%.

Ein Blick auf die Sektionen des diesjährigen Historikertages lässt auf einer anderen Ebene weiteres erkennen: Von den immerhin 169 vortragenden Frauen in den einzelnen Sektionen sind 25 eingetragene Mitglieder im AKHFG, die männlichen Mitglieder im AKHFG und in „Aim Gender“ nicht mit eingerechnet; mindestens weitere zehn Historikerinnen betreiben in anderen Ländern aktiv Geschlechtergeschichte. 16 Vorträge behandeln nach ihrem Titel explizit ein Thema der Geschlechtergeschichte. Die Umbenennung des Verbandes in die männliche und weibliche Form auf Initiative vor allem von Geschlechterhistorikerinnen, die Vergabe des nach einer Historikerin benannten Hedwig-Hintze-Preises, wobei Hedwig Hintze durch ihre Forschungen zum Frauenwahlrecht während der Französischen Revolution durchaus zum Kreis der ersten Geschlechterhistorikerinnen zu zählen ist, und nicht zuletzt der von einer ausgewiesenen Geschlechterhistorikerin, Lyndal Roper, gehaltene Festvortrag des Historikertages, zeigen zumindest eine gewisse Sensibilisierung auch des Dachverbandes.

Trotz des ausgebliebenen Anstiegs, ja derzeitigen Abbaus an geschlechtergeschichtlichen Professuren oder Teildenominationen, wirkt der neue Blick in die Geschichte gerade bei der und über die junge Generation an Studierenden, Forschenden und Lehrenden nachhaltig, wenn auch nicht als „Wunderdroge“, wie Jürgen Martschukat in seinem Vortrag (Geschichte der Männlichkeiten. Akademisches Viagra oder Weg zum „mainstreaming“ der Geschlechtergeschichte?) Traister zitierte, meist aber unter Ausschluss der Umkehr zur alten Sichtweise und oft im Verein mit kulturhistorischen Ansätzen. Allein an den Lehrstühlen der bis letztes Jahr noch fünf Professuren mit Teil- oder Denomination Geschlechtergeschichte haben in den letzten zehn Jahren mindestens 81 junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu einem geschlechtergeschichtlichen Thema promoviert oder habilitiert bzw. sind dabei, es zu tun. Gezielte Nachwuchsförderung, davon bin ich überzeugt, ist die beste Investition in Siege, auch wenn Niederlagen in der Zukunft nicht ausbleiben werden. Institutionalisierung dürfte dabei überaus hilfreich, muss – mit dem Blick etwa auf die Kulturgeschichte – aber nicht ausschlaggebend sein.