Verflochtene Umbrüche? West- und Ostdeutschland seit den 1970er Jahren

FRANK BÖSCH (Potsdam)
Einführung / Politische Kulturen

ANDRÉ STEINER (Potsdam)
Wirtschaft und Konsum

FRANK UEKÖTTER (Birmingham)
Umwelt

WILFRIED RUDLOFF (Kassel)
Schule und Bildung

LUTZ RAPHAEL (Trier)
Kommentar

Abstract:
Die 1970/80er Jahre werden in der Zeitgeschichtsforschung derzeit intensiv als Phase grundlegender Umbrüche diskutiert, die auf die Gegenwart verweisen. Sie gelten als Krisenzeit „nach dem Boom“, in der ein „Shock of the Global“ und der Strukturwandel am Ende des Industriezeitalters mit grundlegenden sozio-ökonomischen, kulturellen und politischen Veränderungen einhergingen. Auffälliger Weise konzentrieren sich die aktuellen Forschungen dazu fast durchweg auf die Bundesrepublik oder westliche Nachbarländer. Entsprechend werden die Veränderungen mit spezifisch westlichen Kontexten und Begriffen interpretiert, die oft bereits zeitgenössisch aufkamen – wie Demokratisierung und Liberalisierung, Postmaterialismus und Postmoderne, Individualisierung und Pluralisierung, Risiko- oder Dienstleistungsgesellschaft. Studien zur DDR der 1970/80er Jahre und zum Sozialismus machen zwar ebenfalls Krisen und Veränderungen aus, analysieren diese jedoch vornehmlich als spezifische Probleme des Sozialismus. Eine integrierte deutsch-deutsche Gesellschaftsgeschichte dieser Wandlungsprozesse steht dagegen noch aus.
Die Podiumsdiskussion geht der Frage nach, inwieweit für die künftige Erforschung der jüngsten Zeitgeschichte eine systemübergreifende Analyse sinnvoll und ergiebig sein kann. Sie fragt, inwiefern seit den 1970er Jahren systemübergreifende „verflochtene Umbrüche“ den eisernen Vorhang durchdrangen und damit eine Annäherung der beiden deutschen Teilstaaten bzw. zwischen Ost- und Westeuropa förderten – wie etwa die Finanzkrisen, die Krise traditioneller Industriezweige und der Aufstieg der Mikroelektronik, die proklamierte neue „Wissensgesellschaft“, steigende Energiekosten und Umweltprobleme oder auch der Wandel des Politischen im Zeitalter des Fernsehens und neuartiger Partizipationsformen. Dabei ist zu diskutieren, in welchem Maß die vielfältigen Krisenperzeptionen Pfadwechsel ermöglichten, die andernfalls kaum denkbar gewesen wären. Damit verbunden ist die Frage, inwieweit derartige Entwicklungen den Niedergang des Sozialismus förderten, auch weil sie die Verflechtung mit dem Westen stärkten. Zudem wird konzeptionell erörtert, welche Begriffe mit mittlerer Reichweite die zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Termini ergänzen und ersetzen könnten, um den Wandel in beiden Systemen zu fassen.
Die Podiumsdiskussion soll sich nicht auf die 1970/80er Jahre beschränken, sondern zugleich mit Blick auf die Zeit nach 1989 fragen, inwieweit über die bekannte Wiedervereinigungspolitik hinaus zwischen Ost und West eine doppelte Transformation auszumachen ist. Während die sozialwissenschaftliche Transformationsforschung den ostdeutschen Wandel als schwierigen Anschluss an die Bundesrepublik betrachtete, wird so überlegt, in welchem Maße sich damit verbunden auch Westdeutschland veränderte, was wiederum unter dem Einfluss globaler Trends geschah. Kritisch zu diskutieren ist, ob es sich in Ostdeutschland nicht nur um eine „nachgeholte Modernisierung“ handelte, sondern durch den Sozialismus und die Transformation auch subkutan Trends vorweg genommen wurden. Damit zielt die Sektion darauf ab, die Geschichte der Wiedervereinigung nicht nur als Politik-, Protest- und Transformationsgeschichte in der DDR zu thematisieren, sondern in einer langen gesamtdeutschen gesellschaftsgeschichtlichen Perspektive, ohne neue Teleologien, vereinfachte Gleichsetzungen und nationale „Master Narratives“ zu konstruieren.
Die Frage nach „Gewinnern und Verlierern“ durchzieht diese deutsch-deutsche Perspektive, ohne sie vereinfacht auf Verlierer der Vereinigung in den neuen Bundesländern und Gewinnern aus dem Westen zu beschränken. Vielmehr wird für beide Teile diskutiert, wie strukturelle Wandlungsprozesse langfristig die Verteilung von ökonomischem, politischem und kulturellem Kapital beeinflussten. Vier Bereiche werden in den max. 10-minütigen Eingangsstatements exemplarisch vertieft betrachtet:
(1) Die politische Kulturen: Die systembedingten Unterschiede sind hier besonders groß. Protestkulturen, die traditionelle politische Eliten herausforderten, entstanden zwar in beiden Teilen Deutschlands, hatten aber eine unterschiedliche Struktur und Bedeutung. Zu diskutieren sind jedoch ähnliche Wandlungsprozesse, die über 1989 hinaus reichen: etwa die Medialisierung der Politik, die in Ost und West übergreifend ihre Responsivität und politische Praktiken beeinflusste; die Rolle und Vermessung der „Silent Majority“, die sich von staatlichen Institutionen abwandte; oder die Folgen von konsumorientierten Logiken für die politische Kultur, die nicht nur entpolitisierten, sondern auch Alltagsfragen potentiell politisieren konnten.
(2) Wirtschafts- und Konsumgeschichte: Beide deutschen Volkswirtschaften mussten sich ökonomischen Herausforderungen stellen, die an den Systemgrenzen nicht haltmachten und die Rahmenbedingungen und Grundlagen des Wirtschaftens im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts prägten: Die einsetzende neue Globalisierungswelle, die weltweite Beschleunigung der technischen Entwicklung und die Veränderungen in der Konsumnachfrage prägten den wirtschaftlichen Strukturwandel in West und Ost sowohl in der Phase der Teilung als auch der Vereinigung in unterschiedlichem Maße. Der Beitrag diskutiert über 1989 hinaus die Folgen dieser Reaktionen.
(3) Umweltgeschichte: Die ökologische Krise ist als Zeitdiagnose ein „Gewinner“ der jüngsten Zeitgeschichte. Seit 1970 entwickelte sich das Wissen um die ökologische Selbstgefährdung des Menschen von einem Anliegen weniger Pioniere zu einem weithin akzeptierten Problemkomplex. Der Blick auf die Umweltgeschichte verbindet die deutsch-deutsche Protestgeschichte mit der materiellen Problemgeschichte, wo die Verflechtungen von der Verschmutzung von Elbe und Weser bis zum Mülltransfer nach Schönberg reichen. Dies wird als deutsch-deutsche Geschichte beständiger Improvisationen interpretiert, die eigenwillig unverbunden neben dem Ruf nach langfristiger Nachhaltigkeit stehen.
(4) Die Schul- und Bildungsgeschichte: Unabhängig von dem Auseinanderlaufen der äußeren Schulstrukturen beider Bildungssysteme lassen sich bereits vor 1989 beiderseits der Mauer Parallelentwicklungen beobachten, die als analoge, wiewohl nicht gleichartige Antworten auf systemübergreifende Herausforderungen des „wissenschaftlich-technischen Zeitalters“ verstanden werden können. Die Frage nach den bildungspolitischen Antworten beider Systeme wird für Problembereiche wie die Begabungsförderung und innere Differenzierung, die Neujustierung und „Verwissenschaftlichung“ des Wissensbegriffs und Fächerkanons, die Koordination von Bildung und Beschäftigung sowie die Entwicklung der inneren Schulkultur und Aufwertung der Unterrichtsqualität diskutiert.
Die Referenten präsentieren in max. 10 Minuten Thesen zu ausgewählten Feldern, für die sie ausgewiesene Experten sind, dann erfolgt ein kritischer Kommentar und eine Diskussion mit den Zuhörern.