Richard Wetzell (Sektionsleitung)

War das Dritte Reich ein Rassenstaat? Kritische Perspektiven

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Abstract

Unsere Sektion bezieht die Frage nach den „gespaltenen Gesellschaften“ auf das nationalsozialistische Deutschland, das als eine nach rassischen Kriterien gespaltene Gesellschaft begriffen werden kann. Die Nationalsozialisten erhoben einerseits den Anspruch, die Klassengegensätze durch eine auf “Rasse” gegründete Volksgemeinschaft zu überwinden; andererseits wurde die Volksgemeinschaft durch die Exklusion von angeblich “rassisch Fremden” definiert. Die Vorträge hinterfragen das von M. Burleigh und W. Wippermann in der Synthese The Racial State (1991) etablierte und in der internationalen Diskussion weiterhin einflussreiche Paradigma des Dritten Reiches als “Rassenstaat” aus vier unterschiedlichen Perspektiven. Mark Roseman untersucht die politischen Diskurse der NS-Zeit um zu zeigen, dass sich der nationalsozialistische Antisemitismus nicht auf rassische Argumentationen reduzieren lässt. Richard Wetzell analysiert die Interaktion wissenschaftlicher und politischer Diskurse zum Thema Rasse und zeigt, dass das Paradigma des „Rassenstaates“ den Einfluss der Rassenforschung auf die NS-Rassenpolitik zu schematisch erfasst und deshalb weit überschätzt. Regina Mühlhäuser geht auf die Rolle von Rasse in der Alltagspraxis ein, um deutlich zu machen, dass die rassisch aufgeladene Sexualmoral der Nationalsozialisten während des Kriegs im Widerspruch zu soldatischen Praxen stand, in denen rassische Erwägungen kaum eine Rolle spielten. Devin Pendas unterzieht die These von der Einzigartigkeit des NS-Rassenstaates einer kritischen komparativen Analyse. Da die Beiträge zur Diskussion anregen und den Dialog zwischen amerikanischen und deutschen Historikern fördern sollen, haben wir eine volle Stunde für die Diskussion vorgesehen und für Einführung und Kommentar zwei prominente deutsche KollegInnen — Michael Wildt und Stefanie Schüler-Springorum — gewonnen.

Mark Roseman (Bloomington)
Jews, Race, and Volk
Roseman zeigt, dass sich die Begründungen, mithilfe derer das Judentum als Feind definiert wurde, nicht auf einen rassischen Diskurs reduzieren lassen. Zum einen existierte ein Synkretismus, mit dem die Nazis ihren Antisemitismus aus religiösen, nationalistischen und rassistischen Quellen speisten. Zum anderen führten die außergewöhnlichen Umstände der Nachkriegszeit dazu, die Juden zu einer feindlichen Macht zu erklären, deren organisierte internationale Bedrohung eher einem feindlichen Staat glich als dem Bild einer rassisch begründeten Unterlegenheit. Obwohl die Rhetorik rassisch aufgeladen war, ging es inhaltlich um das Bedrohungsszenario einer internationalen Verschwörung. Der Beitrag schließt mit der These, dass die Logik des Genozids nicht von einer rassisch-biologischen Version des Antisemitismus abhing. Die Geschichte der Genozide des 20. Jh. zeigt vielmehr, dass mörderische Ideologien auf verschiedenen Modellen von angeblichen Bedrohungen der nationalen Existenz gründen können, oft ohne rassisch-biologische Theorien.
Richard Wetzell (Washington)
Rassenforschung und NS-Rassenpolitik
Wetzells Beitrag hinterfragt Detlev Peukerts These, dass der Holocaust als “Folge einer fatalen rassistischen Entwicklungsdynamik in den Humanwissenschaften” zu verstehen sei. Er weist nach, dass die Rassenforschung der NS-Zeit ein höchst heterogenes wissenschaftliches Feld mit begrenztem konzeptionellem Einfluss auf die Rassenpolitik war. Dies macht es notwendig, die Frage nach der Mitwirkung von Rassenforschern in der NS-Rassenpolitik (die die wissenschafts-historische Forschung dominiert hat) von der Frage des Einflusses der Rassenforschung auf die Entwicklung und Radikalisierung der NS-Rassenpolitik zu trennen. Um zu einem differenzierteren Verständnis der Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Politik zu gelangen, argumentiert Wetzell, sei eine polykratische Analyse der NS-Rassenpolitik mit einer Untersuchung der Rassenforschung als heterogenes Forschungs¬feld in Beziehung zu setzen. Es gelte herauszuarbeiten, wie innerhalb dieses Beziehungsfeldes diverse Wissenschaftler und Funktionsträger der NS-Rassenpolitik verschiedene Konzeptionen von Rasse jeweils für ihre Zwecke geltend gemacht haben.
Regina Mühlhäuser (Hamburg)
Männlichkeit, Sexualmoral und „Rassereinheit“
Obwohl Sexualmoral im Nationalsozialismus eine rassenpolitische Frage war, waren die Regeln, wer mit wem sexuelle Kontakte pflegen durfte, in der Praxis oft uneindeutig. Für Soldaten im Kriegsgebiet galten ohnehin spezifische moralische Normen, die zwar nicht von denen im Reich losgelöst, aber doch anders gelagert waren. Die Zurichtung der oft sehr jungen Männer für den Kriegseinsatz umfasste die Entfesselung ihres Gewaltpotentials ebenso wie Disziplinierungs-techniken, um ihre Unterordnung in die militärische Hierarchie sicherzustellen. Die Befehlshaber kalkulierten ein, dass die Soldaten diese Konditionierung als Zumutung empfinden würden. Sie rechneten mit Abweichungen, die weitgehend erlaubt, mitunter gar geboten waren. So existierten zwar Verbote „unerwünschter“ sexueller Kontakte, aber Grenzüberschreitungen wurden in der Regel nur geahndet, wenn man sie als einsatzgefährdend erachtete. Darüber hinaus versuchte die Wehrmachtsführung, das sexuelle Verhalten der Männer für die Kriegsziele auszunutzen. Entgegen dem Paradigma des Rassenstaates spielten rassische Erwägungen hier kaum eine Rolle.
Devin Pendas (Boston)
Racial States in Comparative Perspective
Pendas setzt sich mit der These auseinander, das Dritte Reich sei der erste und einzige Staat gewesen, der das Konzept der Rasse zum "Dogma" erhoben habe, dem alle Bereiche der Sozialpolitik dienen sollten. Wenn man eine vergleichende Perspektive einnimmt, wird jedoch deutlich, dass viele Staaten bei der Ausbuchstabierung ihrer Sozialpolitik "Rasse" als ideologische Kategorie verwendet haben. Dies gilt für Ideologie und soziale Praxis, etwa in Bezug auf Arbeitsdisziplin oder Sexualmoral. Die naheliegendsten Beispiele bieten das Südafrika der Apartheid-Ära und die Jim-Crow-Südstaaten der USA, aber auch zahlreiche europäische Kolonialregime. Gleichzeitig bietet ein sorgfältiger Vergleich Hinweise darauf, wie sich das NS-Regime von anderen rassistischen Regimen unterscheidet, vor allem im Ausmaß der Genozidgewalt. Unter¬schiede in den „Rassenregimen“ können dazu beitragen zu erklären, warum einige in großem Maßstab mörderisch werden, während andere "nur" repressiv sind.
Stefanie Schüler-Springorum (Berlin)
Kommentar
Michael Wildt (Berlin)
Moderation