Constantin Goschler (Sektionsleitung)

Von der geteilten Nation zur gespaltenen Gesellschaft? Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Transformations- und Umbruchszeit nach 1990

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Abstract

„Ost“ und „West“ erscheinen bis heute oftmals als selbstverständlich akzeptierte Ordnungs- und Beschreibungskategorien innerhalb Deutschlands. Die politische Teilung schien zwar im Jahr 1990 überwunden zu sein. Sehr bald verfestigte sich aber in der allgemeinen Wahrnehmung eine neuerliche Spaltung der deutschen Gesellschaft in „Ost(-deutsche)“ und „West(-deutsche)“: Kulturelle, wirtschaftliche und gesellschaftliche Differenzen sowie deren mögliche Ursachen (in der langfristigen SED-Vergangenheit oder der kurzfristigen Transformationspolitik) wurden nach 1990 immer wieder problematisiert. Die soziokulturellen und sozioökonomischen Dynamiken der Transformationszeit erscheinen innerhalb der Ost-West-Differenzbeschreibungen eng verknüpft: Vermeintliche kulturelle Unterschiede wurden in den Debatten häufig aus ökonomischen Unterschieden erklärt oder umgekehrt. Im Mittelpunkt dieses Panels steht daher die Frage, inwieweit sich in der ostdeutschen postsozialistischen Transformationsphase eine neue gesellschaftliche Spaltung entwickelte. Dazu wird in einer Reihe von Fallbeispielen das Verhältnis von sozioökonomischen Umbrüchen und soziokulturellen Deutungsmustern diskutiert. Es geht somit darum, die Konstitution und Wahrnehmung dieser postsozialistischen Übergangs- und Umbruchssituationen in der Sphäre des Ökonomischen exemplarisch zu untersuchen. Die Beiträge des Panels thematisieren dazu die scharfen kulturellen Polarisierungen zwischen Ost und West in ihren wirtschafts- und sozialhistorischen Kontexten und diskutieren die hiermit eng verknüpften soziokulturellen Dynamiken in der „gespalteten Vereinigungsgesellschaft“. Hier besteht erheblicher gesellschaftlicher und politischer Erklärungsbedarf, den die Zeitgeschichte ernst nehmen sollte.

Constantin Goschler (Bochum)
Einleitung
André Steiner (Potsdam)
Unternehmen im Umbruch: Der Fall Carl Zeiss Jena
Die staatliche Wiedervereinigung legte auch die Zusammenführung der beiden Carl Zeiss-Unternehmen in Jena und Oberkochen nahe, die schließlich durch bereits länger virulente Probleme ihrer gemeinsamen Tradition erzwungen wurde. Beide – die (vermeintlich) starke West-Firma und die aus dem DDR-Kombinat hervorgegangene GmbH – hatten Belastungen zu tragen, die auch die Belegschaften (zunächst noch mehr) wechselseitig entfremdeten. Letztlich war die Vereinigung zwar erfolgreich, aber mit hohen (finanziellen und sozialen) Kosten verbunden. Abschließend wird aufgezeigt, inwieweit dieser Prozess bei Zeiss emblematisch für die Unternehmenstransformation in Ostdeutschland nach 1990 war.
Uta Bretschneider (Kloster Veßra)
Gescheiterte Erfolgsgeschichten? Die ostdeutsche Landwirtschaft und ihre Akteure im Prozess der Transformation
Erfolgsgeschichten dominieren die Darstellungen der Transformation der DDR-Landwirtschaft nach 1989/90. Viele Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften konnten in andere Rechtsformen überführt werden und überdauerten so den Systemwechsel. Doch die Erfolgserzählungen blenden den Wegfall tausender Arbeitsplätze ebenso aus wie die langfristigen Folgen für die ländlichen Lebenswelten. Im Rahmen des Vortrags ist die Analyse – insbesondere durch die Einbeziehung von Akteursperspektiven – auf Facetten des Scheiterns zu erweitern. So rücken fast 30 Jahre nach den Umbruchsprozessen Möglichkeitsspektren und Konfliktpotenziale ebenso wie personelle und räumliche (Dis-)Kontinuitäten in den Fokus.
Christoph Lorke (Münster)
Soziale Ungleichheit in der Vereinigungsgesellschaft: (Neu-)Vermessungen von Sozialstaatlichkeit und Gerechtigkeit
In der Vereinigungsgesellschaft entwickelten sich rasch neue Formen sozialer wie kultureller Spaltung zwischen Ost- und Westdeutschland. Gerechtigkeit und Gleichheit avancierten innerhalb eines konfliktbehafteten Selbstdeutungs- und Verständigungsprozesses zu zentralen Deutungsachsen, durch die nicht nur sozioökonomische Herausforderungen und die Prägekräfte wechselseitiger Fremdheitskonstruktionen sichtbar werden, vielmehr noch: Die Diskrepanz west- und ostdeutscher Erwartungshaltungen und das Erleben sozialer Gerechtigkeit wie Gleichheit miteinander in Einklang zu bringen, sollte zu einer der größten Herausforderungen des Einigungsprozesses werden, der teilweise bis heute nachwirkt.
Marcus Böick (Bochum)
Die Treuhandanstalt und ihr Personal. Manager und Kader zwischen Plan- und Marktwirtschaft
Die 1990 gegründete Treuhandanstalt erwies sich als eine zentrale wie hochumstrittene Organisation der Transformationszeit. Sie stand dabei in doppelter Hinsicht am Schnittpunkt zwischen Ost und West: Im medienöffentlichen wie politischen Raum avancierte sie einerseits schnell zum Symbol massiver Ost-West-Gegensätze in der aufziehenden „Vereinigungskrise“. Andererseits bestimmten derlei Friktionen auch das personelle Innenleben der Treuhand, die von westdeutschen Führungskräften geleitet und mehrheitlich mit ostdeutschem Personal besetzt war. Der Vortrag untersucht damit am konkreten Beispiel diskursive wie praktische Konstitutionen gesellschaftlicher Abgrenzungs- und Differenzierungsphänomene der jüngsten Vergangenheit.
Wolfgang Seibel (Konstanz)
Kommentar