Patricia Hertel Robert Sala (Sektionsleitung)

Verlierer der Zeitgeschichte? Südeuropa nach 1945

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Abstract

Italien, Spanien, Portugal und Griechenland gehören nach Auffassung zahlreicher Sozialwissenschaftler und Historiker zu einem gemeinsamen Strukturraum „Südeuropa“. Die historische Entwicklung dieses Raumes und dessen Beziehungen zu anderen europäischen Regionen seit Mitte des 20. Jahrhunderts scheint eine Geschichte des Aufstiegs und Niedergangs darzustellen: Bis in die 1970er-Jahre waren die genannten Länder von Unterentwicklung und verbreiteter Armut geprägt, fanden in den späten 1990er Jahren wirtschaftlich den Anschluss an die reicheren Nachbarn und wurden politisch durch die Demokratisierungsprozesse in Spanien, Portugal und Griechenland Teil der europäischen Wertegemeinschaft. Mit der Schulden- und Eurokrise zeigte sich eine erneute Spaltung Europas in Nord und Süd, die nicht nur mit strukturellen oder wirtschaftlichen Gefällen, sondern auch mit alten kulturalistischen Stereotypen begründet wurde. Diese Dynamiken von Konvergenz und Differenz lassen die südeuropäischen Länder als Verlierer der Zeitgeschichte erscheinen, obwohl sie sich in einer besseren ökonomischen und sozialen Lage befinden als andere EU-Mitgliedsländer. Ausgehend vom diskursiven und strukturellen Spannungsverhältnis zwischen europäischen Räumen fragt die Sektion nach der Bedeutung Südeuropas als Geschichtsregion der Zeitgeschichte. Die leitende These lautet, dass die Konnotation Südeuropas als homogener Raum irreführend ist, dass aber Portugal, Spanien, Italien und Griechenland spezifische historische Entwicklungen teilen, die mit Zentrum-Peripherie-Dynamiken innerhalb der westeuropäischen Geschichte zusammenhängen. Der scheinbar spezifisch südeuropäische „Sonderweg“ war vielmehr Ausdruck einer gesamteuropäischen Entwicklung; die Integrationsprozesse nährten sich gerade von Gefällen und Ungleichweichten. In dieser Perspektive ist die Geschichte Südeuropas kein Sonderfall, sondern integrativer Bestandteil der europäischen Geschichte.

Patricia Hertel (Basel) Robert Sala (Basel)
Integration durch Exklusion: Portugal, Spanien, Italien und Griechenland in Westeuropa nach 1945
Im heutigen politischen und wissenschaftlichen Diskurs ist „Südeuropa“ zu einer zentralen Kategorie avanciert, unter der ein transnationaler Raum mit ähnlichen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen verstanden wird. Diese Region umfasst meistens eine Gruppe von vier Staaten, d.h. Portugal, Spanien, Italien und Griechenland, deren jüngere Vergangenheit zweifelsohne einige Analogien, aber zugleich wesentliche Unterschiede aufweist. Der Vortrag blickt auf die Nachkriegsgeschichte dieser Länder und fragt danach, inwiefern „Südeuropa“ eine zeithistorische Geschichtsregion darstellt. Diesem Raumkonzept liegen komplexe geopolitische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen zugrunde, die die inneren Verhältnisse und Hierarchien zwischen westeuropäischen Gesellschaften prägten und die Heterogenität Westeuropas nach 1945 sichtbar machten.
Clara Maier (Hamburg)
Rechtsstaat und Estado de Derecho – Überlegungen zu einem Modell europäischer Demokratie
Nord- und Südeuropa werden in der Forschung wie im öffentlichen Diskurs gerne nicht nur als wirtschaftlich, sondern auch politisch höchst unterschiedliche Räume verhandelt. Ein genauer Blick auf die demokratischen und verfassungsrechtlichen Institutionen der beiden Räume eröffnet allerdings den Blick auf geteilte Traditionen und Erfahrungen. Spanien und Deutschland, so soll in diesem Beitrag dargestellt werden, haben nicht nur juristische Auslegungstraditionen in engem Kontakt miteinander entwickelt und ein gemeinsames, historisch spezifisches Verständnis des Rechtsstaats; Spanien und Deutschland haben auch strukturell zur Überwindung der Franco-Diktatur bzw. des Naziregimes ähnliche politische und juristische Muster für die Konstruktion ihrer Demokratie gefunden. Statt eines südeuropäischen Modells von Demokratie und Staatlichkeit lässt sich in der Zusammenschau von Deutschland und Spanien ein Typus des demokratischen Rechtsstaats erweisen, der für Europa im 20. Jahrhundert insgesamt prägend wurde.
Massimiliano Livi (Trier)
Südeuropäische Sonderwege? Kultur und Gesellschaft seit den 1970er Jahren
Seit wenigstens drei Jahrzehnten zeigen die Länder des europäischen Südens teilweise erhebliche Schwierigkeiten, sich an vermeintlich „nordeuropäische“ v. a. wirtschaftliche Maßstäbe, z.B. in der Wirtschafts- und der Arbeitspolitik anzupassen. Für die europäischen Medien und Politik stellt dies einen Beleg für einen negativ konnotierten „südeuropäischen Sonderweg“ dar. Ist dieses Deutungsmuster jenseits der Ökonomie tragfähig? In diesem Beitrag soll insbesondere am Beispiel Italiens überprüft werden, inwieweit man tatsächlich von spezifischen kulturellen und gesellschaftlichen „südeuropäischen“ Entwicklungen in der Zeitgeschichte sprechen kann.
Patricia Hertel (Basel)
Süden, Mittelmeer, Südeuropa: Diskurse der westlichen Moderne
Der „Süden“ in der europäischen Geschichte ist eine mehrdeutige und ambivalente Raummetapher. Das heutige Konzept „Südeuropa“ ist Produkt aktueller Debatten um europäische Binnendifferenzen, speist sich aber gleichzeitig aus jahrhundertealten Vorstellungen: Seit der Aufklärung dienten Konzepte des „Südens“ dazu, wirtschaftliche und strukturelle Gefälle, geostrategische und politische Interessen oder kulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Europa auszudrücken. Der Vortrag analysiert diese vielschichtigen Konnotationen und fragt danach, wie und warum sie in der europäischen Geschichte historisch und historiographisch wirksam wurden.