Birgit Schäbler (Sektionsleitung)

Die Geschichte nah-östlicher Gesellschaften zwischen politischen Einheitsansprüchen und gesellschaftlichen Spaltungen: Syrien und der Libanon

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Abstract

Keine andere Weltregion scheint im Augenblick stärker von extremen Spaltungen geprägt zu sein als der Nahe Osten. Der Krieg in Syrien scheint hier ein schlagendes Beispiel zu sein. Dabei stehen in der westlichen Beobachtung die religiösen Scheidelinien im Vordergrund. Sowohl im Krieg in Syrien als auch im (nach eigenen Regeln) funktionierenden Staat Libanon werden die Probleme vor allem auf „die Religion“ zurückgeführt. Die Sektion analysiert und problematisiert diese Sichtweise indem sie historisch vergleichend und multi-perspektivisch auf die Geschichte dieser beiden Staaten sieht.

Gerade in Syrien gab es historisch starke politische Einheitsdiskurse, die zu bestimmten Zeiten vorhandene gesellschaftliche Spaltungen zu überkommen suchten, sie jedoch aus politischem Kalkül auch instrumentalisierten (Ba’th-Bewegung und -Partei). Das politische Modell der Konkordanzdemokratie im Libanon hingegen setzte von vornherein auf die Existenz verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, deren Repräsentation im Staat ausbalanciert werden musste. Dabei wurden jedoch andere Spaltungen in der Gesellschaft, vor allem entlang sozialer Linien, nicht berücksichtigt.

Birgit Schäbler (Beirut)
Kurze historische Einführung
Astrid Meier (Halle)
Land und Stadt im modernen Syrien: Geschichte einer zunehmenden Spaltung
Wie viele andere Länder des Nahen Ostens war Syrien vor 2011 ein Land, in dem immer weniger Menschen auf dem Land lebten (2011: 48%). Der hohe Grad an Urbanisierung ist kein neues Phänomen und prägt die früh-moderne und moderne Geschichte des Syriens durch die sich wandelnde Art und Weise, wie diese Spaltung in Ordnungsvorstellungen, Normenwelten und politischen Praktiken imaginiert, legitimiert und in gesellschaftliche Realität umgesetzt wurde. Mein Beitrag wird die wichtigsten Etappen dieser zunehmenden Ausgrenzung ländlicher Gesellschaften nachzeichnen, indem er an den kontrastiven Fällen von Dorfgemeinschaften und mobilen Gruppen Muster aufzeigt, deren Effekte sich bis in die gewaltsamen Konflikte der Gegenwart verfolgen lassen.
Birgit Schäbler (Beirut)
Wie gespalten sind nah-östliche Gesellschaften? Uneinigkeit in der internationalen Geschichtsforschung
Auch die internationale Geschichtswissenschaft war und ist sich über die Gewichtung von gesellschaftlichen Spaltungen in den Gesellschaften Syriens und des Libanon nicht einig. Es stehen sich hier vor allem Analysen aus der Region selbst und Diskurse westlicher Wissenschaftslandschaften gegenüber, die jedoch auch in sich selbst nicht einheitlich sind. So unterscheiden sich beispielsweise die Dissertationen syrischer und libanesischer Absolventen in Europa in den Fragen von Einheit und Spaltung ihrer Gesellschaften deutlich von denjenigen, die in den USA entstanden, und beide unterscheiden sich von Darstellungen aus der Region selbst, sowohl in der Methodik als auch in den Ergebnissen. Jüngst brechen sich die Diskurse besonders an den Scheitelpunkten der Postcolonial Studies, was sich an den Diskussionen in den Amerikanischen Universitäten der Region (Beirut, Kairo) gut beobachten läßt. Der Beitrag von Birgit Schäbler analysiert die Metaebenen der wissenschaftlichen Einheits/Spaltungsdiskurse.
Mara Albrecht (Erfurt)
Multidimensionale Spaltungen im libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990)
Der Libanon galt bis zum Bürgerkrieg als Paradebeispiel für friedliche Koexistenz innerhalb einer multikonfessionellen Gesellschaft. Doch bereits in dieser Zeit war die libanesische Gesellschaft in vielerlei Beziehung tief gespalten. Im Zusammenspiel mit Libanons starker Verstrickung in regionale Konflikte trugen diese vielfachen Spaltungen erheblich zum Beginn des Krieges bei und wurden in dessen Verlauf weiter verfestigt. Dieser Beitrag will die Multidimensionalität der gesellschaftlichen Trennlinien im Libanon aufzeigen - die in der Regel stark auf den religiösen Aspekt reduziert werden - und historisch nachzeichnen, wie diese sich im Vorfeld und während des Bürgerkrieges entwickelten. Neben den konfessionellen Identitäten, die durch unterschiedliche Betrachtungsweisen der libanesischen Geschichte und der historischen Rolle und Bedeutung der jeweils eigenen Gemeinschaft weiter gestärkt werden, spielen auch andere Identitätsfolien eine wichtige Rolle. So gibt es im Libanon konkurrierende nationale Identitäten (v. a. arabischer, libanesischer und großsyrischer Nationalismus), aber auch die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Clans, ideologischen Lagern, politischen Parteien und sozialen Gruppen sowie die Bezugnahme auf konkurrierende Widerstandsnarrative sind von Bedeutung. Trotz großer Anstrengungen in der Nachkriegszeit, Versöhnung zwischen den verschiedenen Gruppen anzustoßen und eine Einheit der libanesischen Gesellschaft herzustellen, fördern die religiösen und politischen Gruppen weiterhin widerstreitende kollektive Gedächtnisse und historische Narrative, insbesondere auch zum Bürgerkrieg.
Bassel Akar (Zouk Mosbeh)
A „unified history textbook“ for Lebanese schools?
Armed conflicts and structural violence in Lebanon have exacerbated the divisions across the nation-state’s levels of diversity, including socio-economic status, gender, commitments to different forms of nationalism (Arab versus Lebanese), confessional groups and sectarian identities. In education, the roots of conflict are inadvertently sustained through history education. During the civil war, confessional groups published their own history schoolbooks. Salibi (1988) argued that the distinct histories taught by Muslims, Christians and Druze in schools contributed to armed conflicts in the 1975-1989 Civil War. The diversity of narratives transformed into a battlefield of heroes, villains, victims, cultural roots and achievements. In response, a prominent political leader in the mid-1980s “repeatedly declared that the rewriting of the Lebanese history textbook was a necessary precondition for any lasting political settlement in Lebanon” since the civil war “was, in a fundamental way, a war to determine the correct history of the country (ibid, p. 201). Consequently, the peace treaty that followed the 1975-1990 civil wars stipulated the production of a “unified history textbook” (Ta’if Accord, section F5). I argue that the recommendation of unifying all history textbooks into one to foster social cohesion generated an ontology and epistemology that has shown to do more harm than good. Since 2014, a group of academics and history teachers in Lebanon have received professional development support to develop disciplinary approaches to learning and teaching history. This group has successfully introduced a critical discourse of a disciplinary approach to history education. It challenges the government´s commitment to a unified history book by safeguarding and capitalising different and even conflicting narratives for learners to critically engage with.