Rainer Hering (Sektionsleitung)

Die Archive der Protest-, Freiheits- und Emanzipationsbewegungen – Überlieferung einer gespaltenen Gesellschaft

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Abstract

Archive dienen der Überlieferungssicherung; dort liegen – je nach Archivsparte ­– Dokumente über staatliches, kommunales, universitäres oder kirchliches Verwaltungshandeln, über die Organisation von Parteien oder Unternehmen, über die Geschichte von Adelsgeschlechtern. Was aber ist mit dem Teil der Geschichte, der sich meist nicht in „ordentlichen“ Organisationsstrukturen abspielt, aber dennoch ein nicht weniger prägender Teil der gesellschaftlichen Entwicklung war und ist? Gemeint sind die Dokumente der außerparlamentarischen und nicht-institutionalisierten Bewegungen, die sich im politischen, sozialen oder kulturellen Bereich engagieren  –  denn nur die Dokumente dieser Gruppen und Initiativen selbst können authentische Auskunft über die „Geschichte von unten“ geben. Protest-, Freiheits- und Emanzipationsbewegungen haben die deutsche Gesellschaft seit 1945 nachhaltig geprägt. Friedens-, Frauen-, Umweltschutz- und Jugendbewegungen haben ihre Wurzeln meist schon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert oder in den 1950er Jahren, erlebten aber durch die Studentenbewegung der 1960er Jahre einen immensen Aufschwung. In der DDR waren es die Bürgerrechtsbewegungen mit all ihren Vorläufern und Verquickungen mit Frauen-, Friedens- und Umweltschutzgruppen, die sich gegen den autoritären Staatssozialismus auflehnten.

Längst herrscht in Fachkreisen Einigkeit darüber, dass die Unterlagen all dieser Bewegungen für eine umfassende Überlieferung der gesellschaftlichen Wirklichkeit und für eine quellengestützte Geschichtsschreibung unverzichtbar sind. Um so problematischer ist es, dass Archive der öffentlichen Hand wie Staats-, Kommunal- und Universitätsarchive diese Überlieferung, wenn überhaupt, nur rudimentär leisten können. Die Sicherung der vielfältigen Überlieferungen aus den Bewegungen gehört nicht zu den Kernaufgaben dieser Einrichtungen, wird also beim Einsatz der meist knappen Ressourcen nachrangig behandelt; zudem fehlt den traditionellen Archiven häufig der Kontakt und das nötige Vertrauensverhältnis zu den potentiellen MaterialgeberInnen. Umgekehrt besteht auch auf der anderen Seite, also bei den Bewegungen selbst, oft kein Interesse und keine Bereitschaft, ihre Unterlagen „dem Staat“ oder damit identifizierten Archiven zu überlassen: zu groß ist die Distanz vieler dieser Initiativen und Personen zu staatlichen Institutionen.

Deshalb finden sich in öffentlichen Archiven überwiegend Unterlagen, die die Sicht Außenstehender spiegeln, etwa von Polizei und Justiz, städtischen Verwaltungen oder politischen Institutionen. Aktionen und Motive der Handelnden müssen hier überwiegend aus den Unterlagen erschlossen werden, die aus der Sicht derer angelegt wurden, die diesen Bewegungen zumeist kritisch gegenüberstanden.

Es besteht also die Gefahr großer Überlieferungsdefizite im weiten Feld der Neuen Sozialen Bewegungen. Ein wenig gebannt ist diese Gefahr dadurch, dass seit den späten 1970er Jahren in den oder am Rande von Alternativ- und Protestbewegungen eine ganze Reihe von autonomen, Freien Archiven entstanden ist. So bunt wie die Milieus, zu denen sie gehören – oder aus denen sie stammen –, sind auch ihre Selbstbezeichnungen. Sie nennen sich zum Beispiel Archiv sozialer Bewegungen, Infoladen-Archiv, Papiertiger, Spinnboden, belladonna, Umwelt-Archiv, Archiv im AllerWeltHaus, Archiv Aktiv, Archiv der Jugendkulturen, apabiz oder FFBIZ, afas oder ifak-Archiv. Bei vielen Freien Archiven handelt es sich ursprünglich um die Handapparate politisch arbeitender Gruppen und Initiativen, doch im Laufe der Zeit entwickelten sich etliche von ihnen zu professionellen Archiven. Sie sind Sammelstätten der papiergewordenen Relikte der linken, autonomen, feministischen, schwulen, antifaschistischen, internationalistischen, pazifistischen, subkulturellen, alternativen und ökologischen Bewegungen und Milieus. Sie haben Netzwerke gebildet wie den ida-Dachverband der Frauen- und Lesbenarchive, die Kooperation Dritte Welt Archive oder den Workshop der Archive von unten, treffen sich zum Erfahrungsaustausch oder bauen Datenbanken auf.

Im Jahr 2017 gibt es in Deutschland etwa 100 Freie Archive, die im weitesten Sinne dem Umfeld der Oppositions- und Protestbewegungen der Bundesrepublik und der Bürgerrechtsbewegung der DDR zuzurechnen sind. Viele dieser Archive haben sehr umfangreiche Sammlungen zusammengetragen: die 15 größten verfügen über Bestände von jeweils mehr als 500 Regalmetern, andere verfügen nur über kleine Spezialarchive, die es dennoch in sich haben. Wenn man die Bestände aller Freien Archive zusammenzählt, kommt man vorsichtig gerechnet auf mindestens 20 Regalkilometer.

Freie Archive sind also die Orte, an denen die Geschichte der links-alternativen, außerparlamentarischen sozialen und politischen Bewegungen in Deutschland dokumentiert wird. Doch was genau geht dort vor? Unter welchen Bedingungen gehen die Freien ArchivarInnen eigentlich ihrer Arbeit nach? Wie sind diese Archive organisiert und zugänglich? Und vor allem: welche Quellen können sie einer interessierten Geschichtswissenschaft bieten?

In dieser Sektion wird erstmals ein Überblick über die Freie Archivlandschaft gegeben, verbunden mit ersten Einblicken in ihre Organisationsstruktur und Arbeitsweise, vor allem aber in ihre Quellenlage. Diskutiert werden soll die Bedeutung dieser Quellen für die Geschichtsschreibung, aber auch, welche Erfahrungen es bereits mit der Arbeit in Freien Archiven gibt.

Jürgen Bacia (Duisburg)
Freie Archive und die Quellen der Protest-, Freiheits- und Emazipationsbewegungen
Cornelia Wenzel (Kassel)
Herstory - Quellen zu Frauenbewegung und Frauengeschichte
Daniel Schneider (Berlin)
Subkulturelle Quellen zwischen Pop und Politik
Rainer Hering (Schleswig)
Unterlagen Neuer Sozialer Bewegungen in Archiven der öffentlichen Hand – das Beispiel Baldur Springmann