Claudia Kraft Jürgen Martschukat (Chair of the panel)

Politics of Whiteness: Divided Societies in Europe and the United States

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Abstract

Wenige Tage nach den US-Präsidentschaftswahlen 2016 diagnostizierte die Historikerin Nell I. Painter, dass sich „Weißsein“ von einer unmarkierten Kategorie, die über Jahrhunderte das gesellschaftliche Zentrum besetzt gehabt habe, nun in eine markierte Kategorie gewandelt habe, die zielgerichtet mobilisiert werde, um mehr Anerkennung und größere gesellschaftliche Teilhabe einzufordern. Identitätspolitik sei keinesfalls mehr nur die Sache minoritärer Gruppen, sondern auch der weißen, heterosexuellen, protestantischen Männer. Painter diagnostiziert damit gesellschaftliche und politische Verschiebungen, die in ähnlicher und zugleich anderer Weise auch in zahlreichen europäischen Ländern prägend sind. Das Misstrauen gegen eine pluralistische Kultur und Gesellschaft sowie gegen eine Politik, die diese bewusst anerkennt, wird wieder lautstark geäußert. Zunehmend offensiv werden Grenzziehungen, eine Abkehr von Vielfalt als Wert und eine Rückbesinnung auf ein identitäres Zentrum gefordert. Unser Panel wird diesen gesellschaftspolitischen Wandel hin zu einer identitären Rezentrierung analysieren. Es wird, erstens, die Beobachtung einer umschlagenden Identitätspolitik aufgreifen und diese zeitgeschichtlich verankern. Wir werden zeigen, wie Identitätspolitik schon seit den 1980er Jahren prägendes Kennzeichen einer neuen Epoche wurde und eine rückwärtsgewandte Form anzunehmen begann. Zweitens wird das Panel zeigen, dass diese identitätspolitischen Verschiebungen zumindest ein für westliche Gesellschaften prägendes Phänomen sind. Dabei verstehen wir den Westen als durchaus heterogene Gemeinschaft geteilter Werte, Ideale und Prinzipien, darunter das freie Individuum, Offenheit und die Anerkennung von Pluralität. Wir werden fragen, wie und innerhalb welcher historischer Konfigurationen dieser Wertekonsens in verschiedenen Gesellschaften in Frage gestellt worden ist. So lässt sich auch über die einzelnen Gesellschaftsanalysen hinaus die übergreifende politische Zäsur erfassen, die sich seit den 1980er Jahren vollzogen hat.

Barbara Lüthi (Köln)
„White-washing“ in der Schweiz
In den gängigen Narrativen zur Geschichte der Schweiz wird das Land meist außerhalb des europäischen Erbes des Kolonialismus und Rassismus situiert. In diese Denkweise passt auch die Vorstellung, dass die Präsenz von „people of colour“ in der Schweiz meist auf die 1970er Jahre in Form von passiven Asylsuchenden oder einer vernachlässigbaren neueren Immigrationsbewegungen zurückdatiert wird. Diese Gruppen figurieren zeitlich und räumlich fast gänzlich außerhalb der nationalen Narrative. Auf dem Hintergrund der Geschichte des Kolonialismus und postkolonialen Entwicklungen in Europa soll „race“ als Analysekategorie dienen, um nach den historischen Spezifitäten der Schweiz zu fragen. Zudem werden verschiedene Formen eines anti-rassistischen Widerstands seitens „people of color“ in der Schweiz beleuchtet. Deutlich wird dabei, wie Identitätspolitik bestehende Wissensordnungen in Frage stellen kann.
Gabriele Dietze (Berlin)
Sexualpolitische Ermächtigungsstrategien in Deutschland
Bei den Reaktionen auf die „Kölner Nacht“ wurden v.a. seitens rechtspopulistischer Protagonisten die Vorfälle unhinterfragt mit dem Islam verknüpft. Die sexualisierte Gewalt wandelte sich in der Öffentlichkeit zu einer okzidentalen sexualpolitischen Überlegenheitsnarration und nährte die rassifizierte Angst vor Flüchtlingen und Immigranten. Der Diskurs um die sexualisierte Gewalt brachte „ethnosexistische Figurationen” als eine spezifische Form von Kulturalisierung von Geschlecht hervor. Der Beitrag wird diese Ereignisse historisieren und sie anhand der Beispiele der sexualpolitischen Ermächtigung von Weimar („schwarze Schmach“) wie auch der russischen Vergewaltigungen nach dem Zweiten Weltkrieg gegenlesen.
Claudia Kraft (Siegen)
Identitätspolitik in der Dritten Polnischen Republik seit 1989
1989 gelang der Sieg der polnischen Gewerkschaftsbewegung „Solidarność“ über die kommunistische Staatspartei nicht zuletzt aufgrund einer erfolgreich betriebenen Identitätspolitik, die der Oppositionsbewegung attestierte, das „wahre Polen“ zu vertreten. Der Vortrag betrachtet die Republik Polen seit 1989 und fragt danach, wie in einem pluralistischen politischen System die Ressource der Identitätspolitik eingesetzt wurde, um politische Legitimität herzustellen und Vorstellungen von gesellschaftlicher Einheit zu plausibilisieren. Mit den Debatten um Privatisierungen einerseits und reproduktiver Rechte andererseits werden zwei Politikfelder betrachtet, in denen Klasse, Geschlecht und Ethnizität als Identitätskonstituierende Kategorien neu verhandelt wurden.
Jürgen Martschukat (Erfurt)
Spaltungen der US-Gesellschaft seit den 1970er Jahren
Der Vortrag betrachtet die „konservative Restauration“ (Jeff Cowie) der 1970er und 80er Jahre in den USA und zeigt, wie Vorstellungen einer US-amerikanischen Wesenhaftigkeit mobilisiert und in die politischen Auseinandersetzungen eingespeist wurden. Der „wahre Amerikaner“, so die politische Botschaft, lebe Individualismus, Eigenverantwortung, protestantischen Glauben und Familienwerte, und dieser Wertekanon wurde dabei auf vielerlei Weise an die Identitätsentwürfe des Weißseins und des Heterosexuellseins sowie der Anerkennung einer traditionellen Geschlechterordnung gekoppelt. Erst durch die Stilisierung solcher konservativer gesellschaftspolitischer Ideale als „wahrhaft amerikanisch“ und durch deren Verschränkung mit hegemonialer Identitätspolitik konnte die konservative Restauration eine solche Wirkungsmacht entfalten, dass sie die USA bis heute spaltet.
Claudia Bruns (Berlin)
Kommentar