Brigitta Bernet Benjamin Zachariah Lutz Raphael (Sektionsleitung)

„Von unten“. Deutungskämpfe um die historiographischen Aufbrüche von den 1960er zu den 90er Jahren

Abstract

Seit den 1960er Jahre wurden in Westeuropa, im Ostblock und im Globalen Süden Stimmen laut, die eine Erneuerung der Geschichtsschreibung „von unten“ einforderten: eine Perspektivenverschiebung weg von den Eliten und den großen Strukturen hin zur Kultur, zum Alltag und zu den Erfahrungen der Unterschichten, Frauen und Kolonisierten. Die international wohl bekannteste Spielart der neuen Ansätze war die vom britischen Historiker E.P. Thompson geprägte „history from below“ mit ihrem Fokus auf Arbeiterkultur und Volksaufständen. Auch in Frankreich und in Italien entstanden zur selben Zeit Geschichtsinitiativen wie die Historische Anthropologie oder die Mikrogeschichte. Indien wurde das wichtigste Zentrum dieser neuen Ansätze in den Ländern des globalen Südens, HistorikerInnen in Südafrika und in den Ländern Lateinamerikas folgten nach. Diese historiographischen Erneuerungsbewegungen waren jedoch von Anfang an höchst umstritten, sie wurden nicht nur von Vertretern der etablierten Positionen angegriffen, sondern gerieten auch unter den Verdacht statt Politisierung eine Entpolitisierung und eine „Kulturalisierung“ zu befördern. Die Spuren dieser Deutungskämpfe lassen sich heute noch daran ablesen, dass diese Richtungen heute gemeinhin als Impulsgeber des „cultural turns“ in der Geschichtsschreibung gelten. Die Sektion setzt sich das Ziel, die Deutungskämpfe um die historiographischen Aufbrüche zu historisieren. Konkret fragt die Sektion: 1. Welche gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Einsätzen und Problemlagen motivierten zu den verschiedenen Spielarten einer „Geschichte von unten“? 2. Welche Traditionen und Strukturen der länderspezifischen Geschichtskultur und der nationalstaatlich verfassten Geschichtswissenschaft prägten diese Aufbrüche? 3. Welche Verbreitungswege und Übersetzungen sorgten dafür, dass diese Bewegungen rasch internationale Verbreitung fanden und schneller als etwa ältere internationale Strömungen der Geschichtswissenschaften (wie die Annales) zu einem globalen Phänomen über die westlichen Metropolen hinaus wurden. 4. Wie veränderten diese Bewegungen die öffentliche Rolle des Historikers als politischen Intellektuellen in den jeweiligen Ländern?

Lutz Raphael (Trier)
Einführung und Moderation
Brigitta Bernet (Basel)
Mikrogeschichte. Die Politik einer historiographischen Perspektive

In ihrem Beitrag untersucht Brigitta Bernet die Entstehungszusammenhänge und Diskussionsthemen der Mikrogeschichte. Sie fragt erstens nach den politisch-gesellschaftlichen Kontexten und Motivationen, die in den 1960er und 70er Jahren für das Aufkommen der italienischen Microstoria prägend waren. Zweitens beleuchtet sie die kontroversen Um- und Neudeutungen des Ansatzes im Verlauf seiner internationalen Rezeption seit den 1980er Jahren. Die mannigfachen Deutungskämpfe, zu denen die Mikrogeschichte seit ihren Anfängen immer wieder Anlass gegeben hat, werden im Spannungsfeld von Geschichtswissenschaft und Politik untersucht.

Benjamin Zachariah (Trier)
Arguing with Gramsci in India: The Struggle Around Subalternity

Dr Zachariah examines, in connection with the intensive debates and specific ways of reading the Italian Marxist Antonio Gramsci among Indian intellectuals and historians, how a European and very specifically Italian set of debates was transferred to India in the service of an emancipatory attempt to write history ‘from below’. The Indian historiography of the ‘subaltern studies’ group, similar to and broadly contemporaneous with the Italian ‘microstoria’, became an important export article, and its representatives became internationally important and recognised representatives of the ‘cultural turn’ and of ‘postcolonial studies’. This was in contrast to other trends in ‘history from below’ that continued to work with a Marxian understanding of history, even as the divergent strains all claimed to be working with Gramscian concepts.

Etta Grotrian (Bremen)
Barfuß oder Lackschuh? – Die alltagsgeschichtliche Perspektive in den bundesdeutschen Geschichtswissenschaften und der „neuen Geschichtsbewegung“ der 1980er Jahre

Jenseits der universitären Geschichtsforschung und auch in bewusster Abgrenzung zu dieser entstanden in den 1970er und 80er Jahren in der Bundesrepublik zahlreiche Geschichtsinitiativen: regionalgeschichtliche Arbeitskreise, Stadtteilarchive, Geschichtswerkstätten. Diese lose vernetzten Gruppen stimmten vor allem in ihrem Anspruch überein, Geschichtsschreibung mit Blick auf und Sympathie für die von der Geschichtsforschung bislang vernachlässigten Gruppen zu unternehmen. Alle Interessierten sollten an der Geschichtsdeutung teilhaben und sich ihre Geschichte selbst aneignen. Ihrem Ansatz widersprachen insbesondere Vertreter der universitär etablierten Sozialgeschichtsforschung, die Kritik am erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt der als „Barfußhistoriker“ (H.-U. Wehler) geschmähten Laienforscher übten bzw. ihnen das Fehlen eines solchen theoretischen Ausgangspunktes vorwarfen.