Bodo Mrozek Philipp Felsch (Sektionsleitung)

Theorien, Konzepte, Grundbegriffe: Historiographische Kategorien als Streitgeschichte bei Mannheim, Cantimori, Foucault und Koselleck

Abstract

Während sozialwissenschaftliche Theorien oftmals einen überzeitlichen Geltungsanspruch erheben, betonen Historiker*innen eher die epochale Spezifik auch großkategorialer Deutungsmuster. Der kurze Sommer der Theorie, als den sich die 1970er Jahre verstehen lassen, ist mittlerweile einem Herbst der methodischen Pragmatik gewichen. Wenn konzeptuelle Ansprüche angemeldet werden, so sind dies zumeist „Theorien mittlerer Reichweite“, die häufig von den Theorie-affineren Sozialwissenschaften ausgeliehen werden. Doch auch viele dieser Modellbildungen auf der Mittelstrecke denken die Spezifik anderer Zeitschichten nicht mit und selbst originär historiographische Grundbegriffe sind oftmals durch die jeweilige Gegenwart geprägt, in der sie entstanden sind. Die Beiträge des Panels untersuchen exemplarisch anhand vier unterschiedlicher „klassischer“, für die Geschichtswissenschaft forschungsleitender, theoretischer bzw. semantischer Konstrukte, inwieweit diese – bewusst oder unreflektiert – die intellektuellen Deutungskämpfe ihrer jeweiligen Entstehungszeit widerspiegeln. Die untersuchten Kategorien finden in der Historiographie von der Frühen Neuzeit bis zum 20. Jahrhundert Verwendung, sind jedoch ebenso Kinder ihrer jeweiligen Entstehungszeit. Die Beispiele aus Frankreich, Italien, Deutschland und der Schweiz eröffnen einen übernationalen Raum der Theorieproduktion, in dem auch vergleichende bzw. genealogische Perspektiven aufgezeigt werden.

Monika Wulz (Luzern)
Freischwebende Intellektuelle? Karl Mannheim und die Frage nach den ökonomischen Grundlagen von Kopfarbeit im Kontext der Weimarer Republik (1920er/20. Jh.)

Das Bild des Intellektuellen, der aus einer distanzierten Position Kritik an Staat und Gesellschaft übt, hat die Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts geprägt. Hier sind insbesondere die Konzepte Karl Mannheims einflussreich, der nicht nur mit seinem Generationenkonzept, sondern auch mit seiner Wissenssoziologie ein wichtiger Stichwortgeber für die Geschichtsschreibung ist. Seine wissenssoziologische These, dass Intellektuelle die Fähigkeit besitzen, Einsicht in den Gesamtzusammenhang der Gesellschaft zu gewinnen, diente dem Verständnis des autonomen Intellektuellen als Ausgangspunkt. Der Vortrag zeigt, dass Mannheims 1929 formuliertes Konzept der „freischwebenden Intellektuellen“ aufs Engste mit der zeitgenössischen Debatte um die ökonomischen Grundlagen geistiger Arbeit verknüpft ist, in der der Verlust der intellektuellen Autonomie durch die Auswirkungen der Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg beklagt wird (Alfred Weber). Mannheims Wissenssoziologie muss daher als Beitrag zur Entökonomisierung der zeitgenössischen Debatte um die „Not der geistigen Arbeiter“ verstanden werden. Damit wird ein wissenssoziologisches Konzept herausgearbeitet, das oftmals als überzeitliche Kategorie Verwendung in historiographischen Studien findet, aber eng an die Deutungskämpfe der Weimarer Republik gebunden ist.

Philipp Felsch (Berlin)
Häretiker im Weltbürgerkrieg. Delio Cantimoris historische Methode (1930er-60er / 16. Jh.)

Nicht nur in der italienischen Geschichtsschreibung des 20. Jh. ist Delio Cantimori eine ebenso außergewöhnliche wie umstrittene Figur: als Faschist, Kommunist und prominenter Renegat nach der Zäsur von 1956, als Carl-Schmitt-Vertrauter und KarlMarx-Übersetzer, einflussreicher Theoretiker der Historiographie der mit seiner 1939 (dt. 1949) erschienen, längst klassischen italienischen Ketzergeschichte der Frühen Neuzeit eine Generation von Schülern – darunter Adriano Prosperi, Valerio Marchetti und Carlo Ginzburg – geprägt hat. Gestützt auf unpublizierte Quellen aus Cantimoris Nachlass untersucht der Beitrag die Entstehung und den Zuschnitt seiner Geschichte frühneuzeitlicher Häresien im Kontext seiner eigenen politischen Biografie und der intellektuellen Landschaft Italiens zwischen Faschismus, Resistenza und Nachkriegszeit. Dabei kommen einerseits thematische Parallelen in den Blick, andererseits Cantimoris historisch-kritische Methode, die als Fluchtpunkt der ideologischen Ernüchterung eines politische

Magaly Tornay (Bern)
Vom Dasein zur Transversalität: Michel Foucault und die Psychiatrie (1960er-70er/16.-18. Jh.)

Im März 1954 weilt Michel Foucault am Bodensee, in Kreuzlingen und Münsterlingen: auf Besuch bei Ludwig Binswanger, der das berühmte Privatsanatorium Bellevue leitet. Begleitet wird er u.a. von Georges Verdeaux. Während die Gruppe über eine passende französische Version des Begriffs des „Daseins“ debattiert, findet der alljährliche, klinikinterne Maskenball statt; Verdeaux dokumentiert die verkleideten Patienten in einem anthropologisch anmutenden Film. Ausgehend von dieser Szene am Bodensee untersucht der Vortrag Foucaults frühes Interesse für zeitgenössische psychiatrische Methoden und Instrumente (z. B. den Rorschachtest) bis hin zur Antipsychiatrie der 1960er und 70er Jahre. Dies eröffnet ein historisches Spannungsfeld zwischen seinen historiographischen Beschreibungen der Klinik als totaler Institution und dem Geschichtsdenken Foucaults, dessen Wandel ins Blickfeld rückt. Die Psychiatrie dient in diesem Beitrag als Schlüsselfeld anhand derer zentrale historische Argumente Michel Foucaults auf ihren Gegenwartsgehalt hin diskutiert werden.

Bodo Mrozek (Berlin)
Der Krieg als Vater aller Begriffe? Reinhart Kosellecks Historik im Kontext seiner Erfahrung (1980er– 90er Jahre/18.–19. Jh.)

Kaum ein deutscher Historiker hat ein intellektuell und methodologisch so reiches Werk hinterlassen wie Reinhart Koselleck. Begriffliche Setzungen und epistemologische Metareflektionen des Bielefelder Geschichtstheoretikers haben den Blick auf ganze Epochen geprägt und mit den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ hat er ein Standardwerk versammelt, dessen Lemmata noch immer das Begriffsinventar vieler historiographischer Studien prägen. Gleichzeitig bietet sein OEvre auch autobiographische Reflektionen seiner eigenen historischen (Kriegs-)Erfahrung. Unter Verwendung nachgelassener Dokumente zeigt der Vortrag auf, wie die Verarbeitung seines eigenen Erfahrungsraumes Kosellecks Historik prägt – mal reflektiert und mal unausgesprochen. Dabei wird herausgearbeitet, wie sehr diese Selbsthistorisierung in der Ausdeutung des Zweiten Weltkriegs wurzelt, die wiederum im Kontext einer breiten Aufarbeitung von NS-Geschichte durch geschichtspolitische Debatten der 1980er und 1990er Jahren steht. Es geht damit nicht nur um die biographische Dimension historiographischer Forschung, sondern auch um die Perspektive auf ältere Epochen mit einem an der Streitgeschichte der Gegenwart entwickelten Instrumentarium.

Sven Reichardt (Konstanz)
Impuls zur Diskussion