Renitente Sündenböcke. Widersprechen und Aufbegehren in Hafenstädten im 19. und 20. Jahrhundert
Abstract
Kriminell, respektlos, infektiös – dies waren nur einige Zuschreibungen, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen Weltregionen auf Migrant*innen projiziert wurden – und es zum Teil bis heute werden. Im Zentrum der Sektion stehen Versuche, sich solchen Stigmatisierungen entgegenzustemmen. Anhand von Fallbeispielen zu nationalen und kolonialen Hafenstädten in verschiedenen Weltregionen nehmen die Referent*innen migrantische Minderheiten und deren Bemühen in den Blick, sich gegen Stereotypisierungen und daraus resultierenden Praktiken zur Wehr zu setzen. Die Beiträge diskutieren Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen von Migrant*innen und den Gesellschaften, in die sie eintraten. Die ausgewählten Hafenstädte in Europa, Nordamerika, Asien und Afrika waren um die Jahrhundertwende Schauplätze weltweiter Handels-, Verkehrs- und Migrationsströme. In ihnen wurden nicht nur die Auswirkungen von Globalisierungsprozessen deutlich sichtbar, sondern auch die Offenheit einer Gesellschaft und deren Grenzen. Sowohl Binnenmigrant*innen aus ländlichen Regionen wie internationale und intraimperiale Arbeitsmigrant*innen waren Ziel negativer Projektionen – mit zum Teil massiven Folgen für ihre Lebensumstände. Diese Akteure spürten die Auswirkungen negativer Stereotypen, sie traten aber auch immer wieder an, sich zu widersetzen, Spielräume zu schaffen und Grenzen zu testen. In einer vergleichenden Diskussion der geographisch weit gespannten Fallstudien beleuchtet die Sektion diese spezifischen Deutungskämpfe und ihre Auswirkungen auf das Leben von Minderheiten in Hafenstädten und geht dabei insbesondere Fragen von agency, ethnischen und genderbasierten Differenzierungen und Klassenunterschiedenen nach.
Der Beitrag nimmt das Hafenviertel Göteborgs in den Blick. Hier entwickelte sich im späten 19. Jahrhundert ein reges Vergnügungsleben. Zu Zeiten der An- und Abreise der Überseeschiffe, wenn sich Migrant*innen aus ländlichen Regionen dort aufhielten, herrschte ein karnevalähnliches Treiben, das rasch zum Gegenstand harscher Kritik wurde. Migrant*innen und andere Menschen, deren Lebensmittelpunkt das Vergnügungsviertel war, verteidigten das kulturell, geschlechter- und sozial durchmischte Hafenmilieu und setzten dem Narrativ des Verkommenen eine Erzählung entgegen, die Göteborgs Eintritt in die Moderne ebenso prägen sollte wie die Kulturlandschaft in den neuen hafenfernen Stadtvierteln.
Der Beitrag zeigt am Beispiel der kolonialen Hafenstädte Port Louis und Honolulu, wie sich Migrantengemeinschaften gegen die Stigmatisierung als „Krankheitsherde“ wehrten. In beiden Städten wurden um 1900 (trans)imperiale Arbeitsmigranten aus Asien für Seuchenausbrüche verantwortlich gemacht und zum Ziel drastischer Gegenmaßnahmen. Die Betroffenen bemühten alternative Expertenmeinungen ebenso wie publizistische und diplomatische Unterstützung. In dieser Gemengelage wurde rasch deutlich, dass die Gruppe der Migrant*innen keineswegs an einem Strang zog, sondern vielmehr Deutungskonflikte auch innerhalb der so homogen behandelten Gruppen existierten.
Mit Blick auf San Francisco, Singapur und Wladiwostok erläutert der Beitrag, wie sich die überwiegend männlichen Migranten aus China gegen negative sexuelle Zuschreibungen wehrten. Im Zentrum steht der Vergleich ungelöster Fälle von sogenannter „white slavery“ um die Jahrhundertwende in den drei Pazifikstädten, der eine Momentaufnahme der sozialen wie sexuellen Beziehungen zwischen chinesischen und nichtchinesischen Bevölkerungsgruppen bietet. Die Fallbeispiele offenbaren, dass Versuche, die Grenzen zwischen chinesischen Männern und weißen Frauen aufrechtzuerhalten, gescheitert waren.