Raumimagination und Regionalplanung in Lateinamerika (19. und 20. Jahrhundert)
Abstract
Seit den späten 1980er Jahren fordert der Spatial Turn die Geschichtswissenschaft dazu auf, räumliche Einheiten nicht als gegeben vorauszusetzen, sondern gerade den Konstruktionscharakter von geographischen, politischen oder sozialen Räumen historisch zu erklären. Die Sektion mit fünf Beiträgen aus der Geschichte Lateinamerikas möchte dem raumtheoretischen Anstoß folgen, „das Erzeugen von imaginierten und real wirksamen geopolitischen Einheiten“ (Epple 2017) zu untersuchen. Dabei steht der Staat als Erzeuger dieser Einheiten im Mittelpunkt. Die Sektion folgt der Prämisse, dass die Prozesse der Nationalstaatsbildung und die Vorstellung einer lateinamerikanischen Einheit seit Beginn des 19. Jahrhunderts mit der stets umkämpften Konstruktion von politischen, sozialen und symbolischen Räumen verbunden waren. Mit diesem Fokus auf unterschiedlichen Deutungen historisch konstruierter Räume sowie deren umstrittenen Grenzen und Bedeutungsebenen möchten wir zum übergeordneten Thema des Historikertages beitragen. Deutungskämpfe entstanden im Untersuchungszeitraum (1860er bis 1960er Jahre) unter anderem, weil der Staat und gesellschaftliche Eliten selten als einheitliche Akteur*innen auftraten. Auch blieben staatliche Raumentwürfe und Planungsprojekte nicht unwidersprochen, sondern wurden von subalternen Gruppen herausgefordert. Unter dem Dachbegriff des Raumes werden in dieser Sektion zwei unterschiedliche Perspektiven miteinander in Dialog gebracht. Erstens: Beiträge, in denen die Verortung des kulturellen Raumes Lateinamerika oder einzelner lateinamerikanischer Nationalstaaten in größeren imaginierten räumlichen Einheiten wie einem transatlantischen Raum oder dem ‚Westen‘ analysiert wird. Zweitens: Beiträge, die den Blick auf das Innere von Nationalstaaten richten und untersuchen, wie durch Infrastrukturprojekte staatlich kontrollierte Räume ausgedehnt und von den lateinamerikanischen Eliten als ‚barbarisch‘ aufgefasste Regionen ‚zivilisiert‘ wurden.
In den 1860er und -70er Jahren wurde Buenos Aires von einer Serie von Epidemien heimgesucht. Die Suche nach Erklärungen und Lösungen für diese Seuchen entfachte unter den hauptstädtischen Eliten Argentiniens eine Diskussion, die in einen regelrechten Deutungskampf über die Modernisierung des städtischen Raums mündete. Der Vortrag analysiert diese Debatten und zeigt, wie vielfältig Ideen und Vorstellungen von moderner und „zivilisierter“ Stadt waren und wie ambivalent die damit einhergehenden Referenzen auf eine europäisch gefasste Moderne waren.
Ein umfangreiches Reformprojekt bescherte der kleinen Republik Uruguay zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Ruf des ersten lateinamerikanischen Wohlfahrtsstaates. Das lag an zahlreichen gesetzlichen Neuerungen, aber auch daran, dass die uruguayischen Reformer*innen diese kontinuierlich vor internationalem Publikum als besonders fortschrittlich und ‚zivilisiert‘ präsentierten. Räumliche Selbstverortungen spielten dabei eine zentrale Rolle, sei es, um Uruguays Zugehörigkeit zu einer modernen transatlantischen Welt oder die Entfernung zu vermeintlich weniger ‚entwickelten‘ lateinamerikanischen Nachbarn zu unterstreichen.
Im Rahmen der globalen Entwicklungspolitik im Kalten Krieg kam es zu Deutungskonflikten über nationalstaatliche Raumvorstellungen und räumliche Durchdringungsprojekte. In Lateinamerika entzündeten sich solche Konflikte vor allem an Staudämmen, die oft in peripheren Gebieten gebaut wurden, die in den Augen der Eliten wirtschaftlich für die Nation in Wert gesetzt werden sollten. Der Beitrag beleuchtet die daraus resultierenden Deutungskämpfe um nationale Räume, Regionen und Moderne, die zu gesellschaftlichen und diskursiven Verschiebungen führten und nicht zuletzt die Modernisierungsdiskurse des Kalten Krieg zu erschüttern imstande waren.
Savannen standen im Mittelpunkt der landwirtschaftlichen Entwicklungsprojekte, die lateinamerikanische Staaten seit den 1950er Jahren implementierten. Sie wurden als Laboratorien für gesellschaftliche und ökologische Transformationsprozesse angesehen, in denen nationale und transnationale Akteure Elemente „moderner“ staatlicher und ökonomischer Ordnung kombinierten. Der Vortrag untersucht anhand von Fallbeispielen aus Bolivien und Brasilien die Raumvorstellungen und normativen Gesellschaftsbilder, die sich in einer spezifischen Form der staatlichen Raumordnungspolitik – der modernen Agrarkolonie – niederschlugen.
Die 1960er Jahre stellten einen Wendepunkt in der lateinamerikanischen Stadtplanung dar. Während bis dato urbanistische Modelle vorrangig aus Europa und den USA importiert worden waren, besann man sich nun vielmehr auf die vermeintlichen Eigenheiten lateinamerikanischer Städte. Zusätzlich begannen Stadtplaner*innen der Region im Rahmen des aufkommenden Dritte-Welt-Diskurses auf strukturelle Gemeinsamkeiten mit anderen Städten des Globalen Südens aufmerksam zu machen. Anhand der Beispiele Chile, Brasilien und Mexiko vollzieht der Vortrag die anfängliche Planungseuphorie zu Beginn der 1960er Jahre bis hin zum fast vollständigen Rückzug des Staates aus der Stadtplanung in der Folgedekade nach.