Simone Lässig Ursula Lehmkuhl (Sektionsleitung)

Mobilität und Konnektivität: Quellen, Methoden und hermeneutische Deutungskämpfe im Spannungsfeld von analoger Quellenkritik und digitaler Forschung

Abstract

Das Vortragspanel diskutiert Chancen und Grenzen Digitaler Geschichtswissenschaft mit einem Ansatz, der auch bei solchen Historiker*innen auf Interesse stoßen dürfte, die die „digitale Wende“ in den Geisteswissenschaften skeptisch sehen: Es geht von genuin fachbezogenen Fragestellungen aus und konzentriert sich dafür auf ein Forschungsfeld, das sich in Europa ähnlich dynamisch entwickelt wie in Nordamerika – Mobilität und Konnektivität „einfacher Menschen“ zwischen Früher Neuzeit und Moderne. Vorgestellt werden drei Projekte, die unterschiedliche soziale Gruppen in den Blick nehmen, sich aber an zwei Punkten treffen: Zum einen konzentrieren sie sich auf Mobilitäts- und Konnektivitätsmuster und Wege des Wissenstransfers, die sich im Zuge der Überseemigration entwickelt haben. Zum anderen nutzen alle drei Projekt digitale Quellenkorpora und digitale Werkzeuge bzw. Methoden um aktuelle Forschungsfragen zu beantworten. Transatlantische Briefwechsel und andere mobilitätsbezogene (Massen-)Quellen geben, so die Grundannahme des Panels, Aufschluss darüber, wie im Kontext von Migration und Mobilität geographische und soziale Konnektivitätsräume entstanden sind: Welche Wissens- und Erfahrungswelten wurden durch solche Räume miteinander in Verbindung gesetzt und welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten lassen sich in dieser Hinsicht für die frühe Neuzeit einerseits und das lange 19. Jahrhundert andererseits identifizieren? Welche Akteure haben spezifische Netzwerk- und Kommunikationsstrukturen geformt und wie haben hochmobile und (vorerst) zurückbleibende Mitglieder derselben sozialen Gruppe interagiert? Auf diese und weitere Fragen, die Forschungsperspektiven für eine relationale Wende in der Migrationsgeschichtsforschung aufspannen, gibt es noch kaum empirisch fundierte Antworten. Hier setzt das Panel an: Es möchte Impulse geben und Diskussionen anregen für eine Weiterentwicklung historischer Migrationsforschung durch digitale Quellen und Analysemethoden.

Andreas Fickers (Luxemburg)
Einführung | Digitale Hermeneutik – Chancen und Herausforderungen des „digital turn“ für die Geschichtswissenschaft

Inwiefern beeinflussen Digitalisierungssoftware, Datenbankstandards, Metadaten und Suchalgorithmen die Find- und Darstellbarkeit von Bewegungsmustern und kommunikativen Netzwerken? Inwiefern spiegeln statistisch ermittelte Korrelationen historisch relevante Informationen? Welche Kompetenzen brauchen wir als HistorikerInnen, um explorative Formen der computerbasierten Datenanalyse („distant reading“) mit der kritischen Analyse einzelner Quellen („close reading“) sinnvoll zu kombinieren? Diese und ähnliche Fragen stehen im Mittelpunkt der digitalen Hermeneutik, die in diesem Panel an konkreten Forschungsfragen, Methoden und Werkzeugen der Migrationsgeschichte diskutiert werden.

Rosalind Beiler  (Orlando, FL)
„Sehr wehrte Freunde und Brüders in Christo“: Der Einfluss religiöser Korrespondenznetzwerke auf globale Migrationsflüsse und Mobilitätsmuster im 17. Jahrhundert

Rosalind Beiler stellt das Projekt PRINT vor, das Korrespondenznetzwerke europäischer Wiedertäufer, Quäker und Pietisten im 17. Jahrhunderts untersucht. Durch die Auswertung der Briefe mit Hilfe von Tools zur Netzwerkvisualisierung werden zentrale Akteure frühneuzeitlicher religiöser Kommunikation identifiziert und zueinander in Beziehung gesetzt und neue Erkenntnisse über die geographische Spannbreite von Netzwerken und ihre Veränderung über längere Zeiträume gewonnen. Ziel ist die Rekonstruktion der Art und Weise wie diese Netzwerke globale Migrationsflüsse und Mobilitätspattern im 17. Jahrhundert beeinflusst und darüber spezifisch religiöse Konnektivitätsräume etabliert haben.

Katherine Faull (Lewisburg, PA)
"Wenn du in das land kommst, so denke nicht an gros Reichthum zu gewinnen… ": Constructing a transatlantic digital hermeneutics through 18th Century Moravian Memoirs

Katherine Faull presents the project “Moravian Lives,” a digital platform that allows access to and analysis of the archival manuscripts of (auto)biographical writings of the Moravian Congregation from the 18th to the 20th century. This paper presents the religious network structures, geographical and personal, that act as vectors in the movement and conversion of European and Native peoples in North America, with a focus on the as yet under-analyzed networks of women and Native Americans in the movement of peoples in the long 18th century. Through the encoding of names, places, and dates new insights into the role of gender and race in trans-Atlantic migration can be revealed.

Ursula Lehmkuhl (Trier)
Sprechen über die Wunder der Neuen Welt: Kulturelle Übersetzungspraktiken als kommunikative Konnektivitätsinstrumente in den Briefen deutscher Auswanderer im 19. Jahrhundert

Auf der Grundlage ausgewählter Briefserien der Deutschen Auswandererbriefsammlung Gotha (DABS) präsentiert Ursula Lehmkuhl kommunikative Übersetzungspraktiken in Briefen deutscher Auswanderer als kommunikative Konnektivitätsinstrumente. Dies geschieht auf der Grundlage eines analogen „close readings“ ausgewählter Briefe. Ausgehend von den Ergebnissen der analogen Quellenauswertung wird in einem zweiten Schritt ein Modell für die digitale Erschließung von Übersetzungspraktiken in FuD, einer virtuellen Forschungsumgebung für die Geistes- und Sozialwissenschaften, vorgestellt, das es erlaubt, mit Hilfe digitaler Tools Kommunikationsmuster und ihre Veränderung im langen 19. Jahrhundert zu erfassen.

Simone Lässig (Washington, D.C.)
Transatlantische Mobilität und Wissensproduktion im 19. Jahrhundert: Perspektiven der „Daheimgebliebenen“

An der Schnittstelle von Migrations- und Wissensgeschichte fragt der Vortrag, wie Mobilität und Immobilität aufeinander bezogen waren und wie jene, die (noch) nicht ausgewandert waren, sondern vorerst regional verwurzelt blieben, migrationsbezogenes Wissen aufgenommen und selber produziert haben. Briefe heute kaum noch bekannter Menschen werden auf Alltagspraktiken und Wissensbestände befragt, die sich in den von ihnen mit geschaffenen transatlantischen Kommunikationsräumen geformt und manifestiert haben. Dabei reflektiert der Vortrag Herausforderungen, die mit der Erschließung eines digitalen Korpus von Auswandererbriefen verbunden sind, ebenso wie die Erkenntnispotenziale, die digitale Werkzeuge und Arbeitsweisen für die Analyse nicht serieller Massenquellen inne wohnen.