Hans Beck Uwe Walter  (Sektionsleitung)

Lokale Deutungshoheit im antiken Griechenland

Abstract

Mit der in der Alten Geschichte lebendig und kontrovers geführten Debatte zu Vernetzung und Globalität ist komplementär die Frage nach lokal kodierten Räumen ins Zentrum der Forschung getreten. Netzwerke brauchen lokalen Raum (physisch-konkreten, kulturellen oder imaginären), in dem sich Konnektivität in gelebte Lebenswelt übersetzt. Im Zuge der Debatte zeichnet sich eine grundlegende Neubewertung von Lokalität und Lokalem im antiken Griechenland ab. Zum einen werden die lokale Welt und die in ihr vorherrschende Priorisierung des Lokalen in Form eines ausgeprägten Lokalismus nicht mehr nur auf politische Dimensionen von Autonomie, Subsidiarität und Freiheit reduziert. ,Lokal‘ impliziert eine Bezugsgröße, die die gesamte Breite gesellschaftlichen Handelns einrahmt. Zum anderen ist der lokale Kosmos in dieser Lesart nicht und schon gar nicht ausschließlich einer Taxonomie ausgesetzt, in der universelle Sinn- und Orientierungssysteme automatisch eine höhere Überzeugungskraft besäßen, lokale Gegenentwürfe hingegen als eingegrenzt bzw. verengt abgetan würden. Die neuere Forschung verweist darauf, dass sich im Lokalen gesellschaftliche Wahrheitsregimente verdichten, deren Überzeugungskraft darin ruht, dass sie aus der Mitte des Lokalen selbst stammen, die sie ihrerseits authentifiziert. Von der Globalisierungsdebatte gehen somit weitreichende konzeptionelle Impulse für die Frage nach dem notorischen Problem von Einheit und Vielheit im antiken Griechenland aus. Die Sektion nimmt die politische Ökologie (J. Ober) der griechischen Welt als solche in den Blick: das Spannungsfeld zwischen dem lokalen Horizont der Polis und ihrer Einnetzung in größere Kommunikations- und Handlungskontexte. In Nuancierung vorherrschender Forschungstrends geht es nicht um die Vernetzung der Hellenen in ihrer ‚kleinen Welt‘ (I. Malkin). Die Vorträge beziehen vielmehr eine dezidiert lokale Perspektive, indem sie nach den Sinnangeboten und Orientierungsmustern fragen, die in und aus der lokalen Welt selbst erwuchsen.

Uwe Walter  (Bielefeld)
Gab es überhaupt eine griechische Geschichte? Aporien und Auswege zwischen Mikroskopie und Entgrenzung

Anders als die von Anfang an klar zentrierte Römische Geschichte stellt ihr griechisches Gegenstück ein modernes Konstrukt dar; in der Antike gab es sie nicht, obwohl es selbstverständlich ein durch Sprache und kulturelle Praktiken formiertes hellenisches Bewusstsein gab. Zu den Bedingungen einer ‚griechischen Geschichte‘ gehört die überwältigende Vielfalt lokal begrenzter Akteure. Der einleitende Vortrag zeichnet nach, welche Deutungskämpfe in der Konstruktion einer Erzählung von der Geschichte der Griechen ausgefochten wurden und werden: neuerdings etwa durch den Vorschlag, Identität oder gar Essenz zugunsten von allgegenwärtiger Vernetzung zu verabschieden.

Angela Ganter (Regensburg)
Auf Kreta wurde Zeus geboren – oder doch in Arkadien? Griechische Göttermythen zwischen lokaler Deutungshoheit und kultureller Kohärenz

In Religion und Kult ist die basale Frage nach Einheit und Vielheit besonders prekär. Konkurrierende Traditionsstränge zu den Herkunftsmythen der Götter verdeutlichen den Kampf um religiöse Deutungshoheit. Zugleich verweisen sie auf die lokalen Kommunikationsräume, in denen solche Traditionen eine Rolle spielten. Der zweite Vortrag diskutiert am Beispiel der Mythen von der Geburt des Zeus auf Kreta bzw. in Arkadien, inwiefern verschiedene Gemeinwesen um Deutungshoheiten stritten und in welcher Form dies geschah. Der Beitrag spürt Deutungskämpfe zwischen lokaler Selbstbehauptung und dem Anspruch an einen kohärenten Götterhimmel auf.

Kaja Harter-Uibopuu (Hamburg)
Die Polis passt sich an. Exklusiver Rechtsschutz und die Überwindung seiner Grenzen

Als Rechtsgemeinschaft war die Polis darauf bedacht, ihre Exklusivität zu wahren und das hieß: den Erwerb der Grundvoraussetzung für eine Vollmitgliedschaft gesetzlich zu regeln. Die Grenzen des Rechtsschutzes wurden so automatisch auch zu den Grenzen der Polis. Damit entstanden wiederum lokale Rechtszentren, die – theoretisch – in sich abgeschlossen waren. Die reale Lebenswelt stand jedoch gegen einen solchen Isolationismus. Die Gemeinschaft geriet somit rasch in den Zugzwang, lokal kodierte Rechtsvorstellungen translokalen Gegebenheiten anzupassen. Der dritte Vortrag verfolgt die Auswege aus diesem Dilemma.

Hans Beck (Münster)
Die Stadt als Wahrheitsregiment. Theben im Zeitalter der Perserkriege

Die politische Selbstverortung der Bürgergemeinde in einer sich dramatisch wandelnden Welt wurde nicht nur lokal ausgehandelt, sondern mit Blick auf den lokalen Horizont vorgenommen. Am deutlichsten ist das im Genre der lokalen Geschichtsschreibung erkennbar. Lange Zeit als rückständig erachtet, gerade im Vergleich zur ‚großen‘ Geschichtsschreibung eines Herodot oder Thukydides, zeichnet sich gegenwärtig eine Neubewertung ab. Der letzte Vortrag verfolgt diese Neubestimmung am Beispiel Thebens, indem die lokalen Geschichtsschreiber dort als Sprachrohr einer lokalen Diskurswelt und den in ihr vorherrschenden Regimenten von Wahrheit und Authentizität verstanden werden.

Moderation Plenumsdiskussion – Chancen und Herausforderungen einer „blended hermeneutics“ für die Neuperspektivierung der historischen Migrationsforschung