Isabel Heinemann Kirsten Heinsohn Till van Rahden (Sektionsleitung)

Geschlecht und Demokratie: Deutungskämpfe um die Ordnung der bundesrepublikanischen Gesellschaft

Abstract

Die deutsche Zeitgeschichte unterschätzt bis heute die Bedeutung der Kategorie Geschlecht. Das ist ein eklatanter Unterschied zur Historiographie anderer westlicher Demokratien, wo die intersektionale Betrachtung der Zeitgeschichte inzwischen selbstverständlich ist. Besonders auffällig ist diese Lücke in der Geschichte der bundesrepublikanischen Demokratie: So ist die Kategorie Gender in der Geschichtsschreibung zur Weimarer Republik und zum NS-Regime präsenter als in der westdeutschen Geschichte nach 1945. Zwar versteht sich das Modell der westlichen Demokratie als geschlechtsneutral, beinhaltet aber eine Erzählung der Demokratie, die patriarchalisch geprägt ist. Die Perspektivierung auf Männer als politische Akteure und Täter des Nationalsozialismus einerseits und Protagonisten der Demokratie nach 1945 andererseits zeitigte nachhaltige Folgen für Gesellschaft und Politik – und sie hinterließ ebenso ihre Spuren in der Zeitgeschichtsschreibung. Hier hakt die Sektion ein und plädiert für eine Neujustierung des Verhältnisses von Demokratie und Geschlecht in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. So illustrieren die virulenten Debatten um Privatheit und Öffentlichkeit in der Demokratie oder jene um Repräsentation und Partizipation in Parteien und Parlamenten, wie umstritten die geschlechterpolitische Ordnung der Gesellschaft war und weiterhin ist. Die Sektion möchte diese Deutungskämpfe um die Kategorie Geschlecht aufdecken, neu fokussieren und damit eine Neuperspektivierung der Zeitgeschichtsforschung anzuregen. Der Fokus auf die Demokratiegeschichte bietet den Vorteil, dass die Funktion und Wirkung von Heteronormativität als Grundlage der bundesrepublikanischen Demokratie ermessen werden kann und geschlechtlich geprägte Normen-, Diskurs- und Interaktionsräume des Politischen in den Blick rücken. So wollen wir das vielschichtige Verhältnis von Demokratie und Geschlecht offenlegen und seine konkurrierenden zeithistorischen Interpretationen diskutieren.

Andreas Wirsching (München)
Moderation
Martina Steber (München/Berlin)
Einleitung
Kirsten Heinsohn (Hamburg)
Gruppenbild ohne Dame? Demokratieentwürfe nach 1945

Die Entwürfe für eine neue Demokratie im Nachkriegsdeutschland gingen allesamt auf modifizierte europäische oder US-amerikanische Konzepte zurück. Diese setzten mehr oder weniger offen eine von männlichen Lebensweisen geprägte Staatsbürgergesellschaft voraus. Öffentlichkeit und Privatheit, Repräsentation und Partizipation wurden entsprechend geschlechternormiert definiert. Wurde diese einseitige Sichtweise von Demokratie auch in Frage gestellt? Der Vortrag stellt Debatten und Meinungen dazu aus dem politischen und kulturellen Bereich vor, insbesondere mit Blick auf Frauenorganisationen und Publizistik.

Till van Rahden (Montréal)
Neue Männer für ein neues Land. Demokratie und Männlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland

Die Geschichte der Bundesrepublik war auch die Suche nach anderen, besseren und sanfteren Männern – ausgehend von einer beschädigten und fragwürdigen Männlichkeit nach Gewaltherrschaft und Vernichtungskrieg. Zwar verteidigten viele in der frühen Bundesrepublik das Patriarchat als Grundlage der Demokratie, doch wurde die Kritik an diesem Gesellschaftsideal immer lauter. Der Vortrag untersucht Debatten über die prognostizierte Krise des Mannes von den 1950er bis in die 1980er Jahre. So lenkt er den Blick auf zentrale Motive der Demokratietheorie der Bundesrepublik, die sich aus der Auseinandersetzung um Männlichkeit und Demokratie ergeben.

Isabel Heinemann (Münster)
Die Familie als „Keimzelle“ der Demokratie – oder deren größte Bedrohung? Konflikte um den Wert der Familie nach 1945

Die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft beruhte auf dem Wert der patriarchalen Familie – gerade weil die meisten Familien durch Vernichtungspolitik, Krieg und Flucht/Vertreibung fragmentiert waren. Erst ab den 1960er Jahren argumentierten die 1968er Bewegung und vor allem die neue Frauenbewegung, die Unterdrückung von Frauen und Kindern gefährde die Demokratie. Unter dem Schlagwort „Das Private ist politisch!“ forderten Frauen Entscheidungsrechte über ihre Körper, ihre Berufstätigkeit und ihre Familienfunktionen. Der Vortrag interpretiert das Ringen um die Familie und ihre Geschlechterrollen als Schrittmacher der Debatten um die demokratische Gesellschaft nach 1945.

Christina von Hodenberg (London)
Kommentar