Jan Gerber Philipp Graf (Sektionsleitung)

Erfahrung und Erinnerung. Israel, die deutschsprachige Linke und der Holocaust

Abstract

Die Sektion will das Verhältnis der deutschsprachigen Linken zu Israel aus der bislang wenig beachteten Perspektive ihrer jüdischen Angehörigen betrachten. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die Auseinandersetzung jüdischer Linker mit Israel nicht immer analog zu der ihrer nichtjüdischen Genossen verlief. Während sich etwa ein Großteil der Linken in Deutschland und Österreich infolge des Sechstagekriegs von Israel abwandte, versagte sich eine Reihe linker Juden wie Michael Landmann, Jean Améry, Peter Edel oder Bruno Frei dieser Entwicklung. Hintergrund dieser Weigerungen war nicht zuletzt der Holocaust, der etwa Frei ein „Bewusstsein der Zugehörigkeit“ aufzwang, das er mit seiner Hinwendung zum Sozialismus „eigentlich ausgelöscht geglaubt“ hatte, wie er einmal schrieb. Durch die Vernichtung sahen sich viele linke Juden nach 1945 jedoch wieder als Teil der jüdischen Welt. Das heißt nicht, dass sie der israelischen Politik kritiklos gegenüberstanden. Als Angehörige der Arbeiterbewegung unterlagen sie dem Eindruck der tagespolitischen Ereignisse des Kalten Kriegs ebenso wie denselben ideologischen Prägungen ihrer nichtjüdischen Mitstreiter. In einem Punkt unterschieden sie sich jedoch – dem einer „jüdischen“ Erfahrung. Das hatte zur Folge, dass sich zumindest einige von ihnen durch den Holocaust verunsicherter zeigten und die antiisraelischen Vernichtungsdrohungen ablehnten, mit denen viele ihrer nichtjüdischen Genossen aufwarteten. Während das Verhältnis der deutschsprachigen Linken zu Israel bislang meist unter politischen und ideologischen Vorzeichen untersucht wurde, ist die Annahme eines von biographischer und historischer Erfahrung bestimmten Faktors dazu angetan, ein differenziertes Bild zu zeichnen. Dies betrifft nicht allein die jüdischen Protagonisten, sondern spiegelbildlich auch den Erfahrungshintergrund, vor dem nichtjüdische Linke in dieser Frage agierten. In Anlehnung an Pierre Noras Konzept der „Lieux de mémoire“ soll diese Konstellation anhand dreier Erinnerungsorte beleuchtet werden.

Jan Gerber (Leipzig)
Israel, die deutschsprachige Linke und der Holocaust: Drei Erinnerungsorte (Einführung)
Philipp Graf (Leipzig)
Mexiko-Stadt, Heinrich-Heine-Klub, 1944. Kommunisten entdecken das jüdische Volk

Mexiko entwickelte sich zwischen 1941 und 1946 zu einem der wenigen Zentren des deutschsprachigen kommunistischen Exils, in dem die Nachrichten aus Europa eine umfangreiche Diskussion über den Holocaust auslösten. Ausgehend von der Erkenntnis, dass die Ermordung der Juden allein ihrer Herkunft wegen erfolgte, erhob der Kreis um Paul Merker, Mitglied des Zentralkomitees der KPD, nicht nur die Forderung nach materieller Wiedergutmachung, sondern sprach sich auch für die Gründung eines jüdischen Staats aus. Anhand des jüdischen Juristen Leo Zuckermann behandelt der Vortrag die Frage, welche Entwicklung die Diskussion über das jüdische Schicksal nahm und inwiefern sich Mexiko darin von anderen Exilzentren unterschied.

Kristina Meyer (Jena)
Bonn, Bundeskanzleramt, 1969. Die SPD und die Dialektik der Normalisierung

Ausgangspunkt des Vortrags ist der Antrittsbesuch des israelischen Botschafters Asher Ben-Natan bei dem kurz zuvor zum Bundeskanzler ernannten Willy Brandt. Bei dieser Gelegenheit formulierte Brandts Berater Egon Bahr, dessen Mutter Jüdin war, das oft zitierte Diktum, wonach auf die Bundesregierung von nun an kein Druck mehr ausgeübt werden könne, da sie nicht länger mit der Vergangenheit erpressbar sei. Ausgehend von diesem Ereignis wird die Entwicklung des Verhältnisses der SPD zu Israel und ihres Umgangs mit dem Holocaust seit 1945 entfaltet, wobei das Augenmerk der oft ambivalenten Scharnierfunktion jüdischer Sozialdemokraten im Verhältnis zwischen der SPD und israelischen Organisationen gilt.

Zarin Aschrafi (Jerusalem)
Frankfurt am Main, Verlagshaus Neue Kritik, 1982. Abschied von der Neuen Linken

Anfang der 1980er Jahre transformierte sich der einst vom SDS geführte Verlag Neue Kritik zu einem Ort des Austauschs zwischen Deutschen und Juden aus dem linken Milieu Frankfurts. Hatten linke Juden vor dem Hintergrund ihres eigenen politischen Engagements im Palästinakonflikt den zionismuskritischen Impetus deutscher Linker anfänglich noch oft unterstützt, stellten sich die Vergleiche des Nahostkonflikts mit der deutschen Geschichte vielen von ihnen als mindestens geschichtsrelativierend dar. Anhand der 1986 gegründeten Zeitschrift „Babylon“ zeichnet der Vortrag den Werdegang linker Juden in der Neuen Linken nach und stellt zugleich die Frage, wie dieser in die Forderung nach der Entwicklung eines emphatischen Begriffs von Geschichte mündete.

Gerd Koenen (Hamburg)
Erfahrung und Erinnerung. Ein Kommentar