Martina Heßler Julia Erdogan (Sektionsleitung)

Deutungskämpfe um das Digitale. Selbstverständigungsprozesse in der digitalen Wirklichkeit

Abstract

Technologien haben seit dem 19. Jahrhundert vielfach Deutungskämpfe hervorgerufen. Dies gilt für die Maschine, die im 19. und 20. Jahrhundert zu neuen Deutungen von Arbeit sowie zu neuen menschlichen Selbstverständnissen führte, genauso wie für die Gentechnologie oder die Atomkraft, um die teils bitter gestritten wurde. Die Digitalisierung, Thema der geplanten Sekti-on, wird als ein die Gegenwart prägendes Phänomen derzeit intensiv debattiert und konkurrie-rend gedeutet. Sie hatte allerdings bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mannigfach Deutungskämpfe ausgelöst.
Diese bezogen sich beispielsweise auf die nur scheinbar simple Frage, was ein Computer ist, darauf, wie der Begriff des Digitalen zu fassen sei oder wann die Geschichte des Computers begann (vgl. z.B. Edwards 1996; Gugerli/Zetti 2019; Haigh 2019). Auch der „Umzug“ der Welt in den Computer war ein intensiver Aushandlungsprozess über die Frage, wozu Computer überhaupt verwendet werden können und sollen und wie dies zu bewerkstelligen sei (Gugerli 2018). Kategorien wie „Denken“ wurden im Zuge der Computerisierung neu gedeutet und bis heute wird gestritten, ob Denken eine rein menschliche Angelegenheit sei oder ob auch Maschi-nen denken könnten und was der Begriff des Denkens in einer digitalen Wirklichkeit denn überhaupt bezeichne.
Die Vorträge schließen an diese Forschungen an. Damit ist klar, dass Deutungskämpfe um das Digitale nicht nur Konflikte um das Für und Wider einer (neuen) Technologie meinen. Vielmehr zielt die historische Analyse von Deutungskämpfen hier auf die Erforschung von Konflikten um grundlegende Neuinterpretationen von Konzepten, von Praktiken, von Mensch-Maschinen-Verhältnissen sowie auf Debatten, wie die Geschichte zu deuten sei. Deutungskämpfe waren Teil der Selbstverortung in einer digitalisierten Gesellschaft.
Die Sektion möchte mit dem Blick auf Deutungskämpfe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Bundesrepublik und der DDR sowie den USA gegenwärtige Diskurse und widerstrei-tende Positionen um Digitalisierung an die Geschichte zurückbinden. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwieweit sich um das Digitale spezifische Argumentations- und Legitimationsmuster entwickelten und bestimmte diskursive Strategien sowie eventuell auch polare Deutungsmuster herauskristallisierten.

Daniela Zetti (Lübeck)
Computergeschichte und die Stolpersteine vergangener Zukünfte

Informatiker_innen und Historiker_innen machten sich bereits vor Jahrzehnten auf die Suche nach den Ursprüngen des Computers und kamen dabei zu stark abweichenden Ergebnissen. Untersuchungen identifizierten Rechenmaschinen vergangener Zivilisationen als Ur-Rechner, setzten im Jahr 1949 ein oder würdigten gerade nur die jeweils vorausgegangene Gerätegenera-tion. Zwischen den 1950er und 1980er Jahren sind so Deutungen des Computers entstanden, die nie unbestritten waren, aber bis heute, also über die Einführung von Personal Computern und Internet hinweg, bestand haben. Sie haben dabei oft nicht mehr gemeinsam als eine durch-aus problematische Fokussierung auf „die Maschine“ und das Ringen um Interpretation – die Pflege von Interpretationsräumen, in denen das Wirkungsfeld computerisierten Rechnens mit wissenschaftlichen Mitteln reflektiert wurde.
Der Vortrag fragt, wie sich historische Kontinuitäten des Deutens erklären lassen und geht auf überraschende Momente und Brüche in Diskussionen rund um die Geschichte des Computers ein. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Frage, wie die immer neuen Zukunftsentwürfe der Computerentwicklung historische Argumentationen anregten, prägten oder verhinderten.

Lucas Böhme  (Dresden)
Wer findet den Täter? Deutungskämpfe um die Rolle von „Kommissar Computer“ in polizeilichen Diskursen der Bundesrepublik und der DDR

Die Computereinführung in den Polizeibehörden beider deutscher Staaten war von massiven Deutungskämpfen über die künftige Ausgestaltung der kriminalistischen Arbeit geprägt. Horst Herold, von 1971-1981 Präsident des Bundeskriminalamts und Symbolfigur bundesdeutscher Terrorismusbekämpfung, schrieb der EDV-gestützten Suche nach Verbrecher_innen 1974 gar eine „gesellschaftssanitäre Aufgabe“ zu. Seit 1972 hatte seine Behörde mit INPOL eine EDV-basierte Personenfahndung im Einsatz, die mit der zunehmenden Furcht vor dem vermeintlich perfekten Überwachungsstaat für gesellschaftliche Kontroversen sorgte. Über das Potenzial von Computern für die Polizei wurde jedoch schon weit eher nachgedacht.
Vor diesem Hintergrund geht der Vortrag der zentralen Frage nach, entlang welcher Konfliktli-nien, Argumentations- und Deutungsmuster der Einsatz von Computern für die polizeiliche Ar-beit seit den fünfziger Jahren bis in die achtziger Jahre sowohl innerhalb einzelner Polizeibehör-den als auch zwischen selbigen verhandelt wurde. Dabei wird deutlich, wie sich die polizeiinter-ne Skepsis der frühen Jahre gegenüber der neuen Technik im Laufe der Zeit hin zu einer stärke-ren Akzeptanz wandelte, die in stabilisierten Diskursen sichtbar wird. So tritt bei der westdeut-schen Polizei seit den sechziger Jahren vielfach das Bild eines unweigerlichen Fortschreitens der Technik auf, das jenseits von radikaler Ablehnung und übertriebenem „Technologie-Fetischismus“ steuernder Eingriffe bedarf.
Dennoch bleibt der Streit über die Rolle künftiger Polizist_innen greifbar: Fördert die Maschine die Hervorbringung eines schnellen, kreativen „Ermittler-Typus“, oder verkommt der Mensch vielmehr zum bloßen „Diener“ eines EDV-Systems, der sich komplizierter Probleme durch Ein-gabe in den Computer entledigt und somit riesige „Datenfriedhöfe“ produziert?
Der Vortrag greift derlei Aspekte auf und zieht als profilschärfenden Vergleich polizeiliche Quellen aus der DDR heran, wo sich parallel ähnliche Diskurse zur künftigen Ermittlungsarbeit abspielten. Es wird gezeigt, dass die Deutungskämpfe zum Thema „Computer“ bei den Polizei-en beider deutscher Staaten nicht zuletzt auch auf handfeste Machtfragen zurückgehen.

Martina Heßler (Darmstadt)
Digitale Haustiere: Kann das Liebe sein? Deutungskämpfe um Emotionen in den 1990er Jahren

In den 1990er Jahren wurde weltweit ein elektronisches Haustier zum Lieblingsobjekt von Tee-nagern, aber auch von Erwachsenen: das Tamagotchi. Das virtuelle Küken „schlüpfte“ im Plas-tikei und bedurfte fortan der steten Aufmerksamkeit und sorgfältigen Pflege. Es musste gefüt-tert, gesäubert, schlafen gelegt und emotional betreut werden. Schließlich „starb“ es, je nach Pflege, früher oder später.
Ein digitales gadget schien hier in den Status eines Lebewesens zu rücken. Es rief Emotionen hervor, verlangte nach Zuneigung und gab Zuneigung. So jedenfalls die anthropomorphisieren-de Beschreibung eines technischen Objekts. Das Tamagotchi steht im Vortrag exemplarisch für Deutungskämpfe darum, wer und was ein „geliebtes Objekt“ (Tilman Habermas) sein kann.
Auf verschiedenen Ebenen entbrannten Deutungskämpfe um diese digitalen Emotionen. Die Deutungskämpfe bezogen sich auf pädagogische und psychologische Fragen, ob Jugendliche hier zum sorgfältigen und liebevollen Umgang erzogen oder gerade im Gegenteil abgestumpft werden, gerade gegenüber Erfahrungen wie Tod oder Trauer. Schließlich reichte ein Reset, um das „Tam“ wieder zu beleben.
Die Deutungskämpfe bezogen sich aber auch auf philosophisch-ethische Fragen, was denn eine Emotion sei, ob ein digitales Gerät „geliebt“ werden könne und was unter Zuneigung und Für-sorge zu verstehen sei, womit grundlegende anthropologische Fragen angesprochen wurden.
Schließlich muss das Tamagotchi auch im Kontext der Debatten der 1990er Jahre um Virtualität und Lebendigkeit und „Echtheit“ betrachtet werden.
Der Vortrag möchte das Feld dieser Deutungskämpfe aufspannen.