Deutungskämpfe austragen! Der Beutelsbacher Konsens und seine Bedeutung für den Geschichtsunterricht
Abstract
Meinungsfreiheit, die Offenheit und Pluralität von Debatten sowie die Möglichkeit, gemeinsam um Deutungen zu ringen und einen mehrheitsfähigen Kompromiss auszuhandeln, sind konstitutive Merkmale demokratischer Gesellschaften. Aktuelle Debatten über Migration, Antisemitismus oder die Deutung der NSVergangenheit erwecken jedoch nicht nur den Eindruck einer zunehmenden Geschichtsvergessenheit, sondern verdeutlichen zudem, dass der Wille und mitunter auch die Fähigkeit abhandenkommen, sich in einem offenen Dialog mit den Positionen anderer auseinanderzusetzen und Kompromisse zu finden. Der Geschichtsunterricht kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, diese Probleme bereits früh anzugehen, da er erstens demokratische Werte und Normen vermittelt und historisch reflektiert, zweitens für die Komplexität historischer Phänomene und die Vielfalt möglicher Deutungen sensibilisiert sowie drittens eine kritischreflektierte Urteilsbildung fördert und so zur kompetenten Teilhabe am geschichtskulturellen Diskurs befähigt. Damit der Geschichtsunterricht diese Aufgaben erfüllen kann, ist es didaktisch sinnvoll und bildungspolitisch gefordert, dass sich Geschichtslehrkräfte an den Prinzipien des Beutelsbacher Konsenses orientieren: Überwältigungsverbot, Kontroversitätsgebot und die Befähigung zum politischen Handeln können als Richtlinien verstanden werden, wie gesellschaftliche Deutungskämpfe über historische Phänomene im Unterricht zu thematisieren sind. Trotz dieser Bedeutung steht eine fachspezifische Diskussion des Beutelsbacher Konsenses noch aus. Die Sektion hat daher zum Ziel, eine solche Auseinandersetzung anzustoßen und zu diskutieren, welche Bedeutung den Prinzipien des Konsenses für das historische Lehren und Lernen vor dem Hintergrund der skizzierten gesellschaftlichen Herausforderungen zukommen kann.
Welche Bedeutung besitzt der Beutelsbacher Konsens für die politische Bildung? Der Vortrag skizziert aus politikdidaktischer Perspektive die Genese und Rezeption des Konsenses, wobei die Kontroversen um die Konsensprinzipien besondere Aufmerksamkeit erfahren. Auf theoretischer, empirischer und pragmatischer Ebene werden Problemlagen beschrieben und systematisiert, wobei der Vortrag stets auch die Bedeutung aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen reflektiert. Der Beitrag erschließt so den Diskurs für eine geschichtsdidaktische Auseinandersetzung mit dem Beutelsbacher Konsens.
Welche Bedeutung kommt dem Überwältigungsverbot im Kontext eines werteorientierten Geschichtsunterrichts zu? Der Anspruch, Werte nicht einfach zu vermitteln, sondern einerseits eine diskursive Auseinandersetzung mit ihnen zu ermöglichen und sie andererseits auch selbst vorzuleben, ist ein anspruchsvolles und nicht immer konfliktfreies Unterfangen. Der Vortrag diskutiert nicht nur, wie das Überwältigungsverbot aus geschichtsdidaktischer Perspektive zu verstehen und unterrichtspragmatisch umzusetzen ist, sondern führt zudem vor Augen, warum es eine in politischen und wertebezogenen Fragen neutrale Geschichtslehrkraft nicht geben kann und auch nicht geben darf.
Wie verhält sich das Kontroversitätsgebot zum geschichtsdidaktischen Prinzip der Multiperspektivität? Der Vortrag erörtert das Prinzip als fachspezifische Profilierung und Erweiterung des zweiten Konsenssatzes. Dabei werden nicht nur mögliche Herausforderungen, vor denen Lehrkräfte bei der Umsetzung des Kontroversitätsgebots stehen, skizziert, sondern auch die Frage nach möglichen Grenzen des Gebots gestellt. Diskutiert wird, ob auf die Wahrnehmung von Kontroversität nicht die Suche nach einer möglichst großen „Konsensobjektivität“ (Lübbe) folgen muss und ob der Konsenssatz nicht einer Erweiterung um ein „Prinzip der Ungewissheit“ (Dahrendorf) bedarf.
Was bedeutet die im dritten Konsenssatz geforderte Befähigung der Schüler*innen zum politischen Handeln aus geschichtsdidaktischer Perspektive? Im Fokus des Vortrags stehen sowohl die Lernenden als auch die Ziele historischen Lehrens und Lernens. Vor dem Hintergrund einer fachspezifisch profilierten Subjektorientierung diskutiert der Beitrag, ob in der Befähigung zum historischen Denken und zum kompetenten geschichtskulturellen Handeln eine sinnvolle Schärfung des Konsenssatzes aus geschichtsdidaktischer Perspektive gesehen werden kann und welche Konsequenzen damit für die Praxis historischen Lehrens und Lernens verbunden wären.