Jürgen Dinkel Anna-Maria Götz Florian Greiner  (Sektionsleitung)

Deutungskämpfe am Lebensende – Zur Dialektik von Individualisierung und Standardisierung beim Sterben, Trauern und Erben im 20. Jahrhundert

Abstract

Der Tod eines Menschen bringt unweigerlich eine Grenzziehung zwischen einem Vorher und einem Nachher mit sich. Die Gestaltung der Übergänge zwischen diesen beiden Seiten provozierte gerade im 20. Jahrhundert zahlreiche Deutungskonflikte: Wann endet menschliches Leben eigentlich genau? Worin besteht adäquates Trauerverhalten? Und wie ist das (im-)materielle Erbe aufzuteilen? Die Antworten auf solche Fragen fielen unterschiedlich aus und wurden immer wieder modifiziert. Die Sektion untersucht vor diesem Hintergrund für die drei Bereiche Sterben, Trauern und Erben, welche Akteure (z.B. der Staat, Ärzt*innen, Ökonom*innen, Geistliche, Jurist*innen und Verwandte) Handlungskompetenzen und handlungsleitendes Wissen beanspruchten, welche Vorstellungen von „richtigem“ Handeln sie hervorbrachten und wie sie dadurch auf konkrete Praktiken einwirkten. Mit anderen Worten: Wie war das Lebensende im 20. Jahrhundert organisiert? Ziel ist es zum einen, die stark voneinander isolierten Forschungsstränge zum Sterben, Trauern und Erben zusammenzuführen. Bisher überwiegen in den jeweiligen Bereichen methodisch eher einseitige Zugänge in Form von rechts- und verwaltungshistorischen (Erben), medizingeschichtlichen (Sterben) oder mentalitätsgeschichtlichen (Trauern) Studien. Diese sollen mit Hilfe kulturhistorischer Forschungen zu Übergängen und Liminalität miteinander ins Gespräch gebracht werden. Dadurch lassen sich die Deutungskämpfe am Lebensende adäquat analysieren und eine historische Einordnung gegenwärtiger gesellschaftlicher Debatten vornehmen. Zum anderen will die Sektion den Mehrwert thanatologischer Fragestellungen für die Neuere und Neueste Geschichte aufzeigen, die sich dem Thema bislang kaum angenommen hat. Am Lebensende verdichteten sich zahlreiche markante gesellschaftliche Entwicklungen und Verschiebungen im 20. Jahrhundert, etwa mit Blick auf das Verhältnis von Öffentlichem und Privatem, oder Prozesse der Ökonomisierung, Subjektivierung und Standardisierung.

Jürgen Dinkel (Leipzig) Florian Greiner  (Heidelberg/Augsburg)
Einleitung: Perspektiven einer Geschichte des (St)Erbens und Todes im 20. Jahrhundert

In der programmatischen Einleitung werden Bezugspunkte zwischen den Forschungsfeldern und weiterführende Perspektiven aufgezeigt. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass sich Fragen der Selbstermächtigung im 20. Jahrhundert zu einer zentralen Facette am Lebensende entwickelten, die Folgekonflikte zwischen den Betroffenen und anderen Akteur*innen provozierten. Darauf reagierten Familien und Gesellschaften wiederum mit der Ausbildung von Routinen und dem Versuch, moralisch-emotionale Fragen von ökonomisch-rationalen zu trennen, wodurch es zu einer Dialektik von Individualisierung und Standardisierung am Lebensende kam.

Anna-Maria Götz (Hamburg)
Der Friedhof als Bühne – Bestatten, Tod und Trauer in Hamburg um 1900

Der Parkfriedhof Ohlsdorf in Hamburg zeigt beispielhaft, wie sich europäische Friedhöfe um 1900 zu Schauplätzen von Deutungskämpfen zwischen Kirche, Kommunen und einem erstarkenden, weltlich orientierten Bürgertum entwickelten. Der Vortrag interpretiert das Familiengrab als eine Bühne, die meist schon zu Lebzeiten wie ein Denkmal konzipiert wurde, und beleuchtet so einen Paradigmenwechsel, der bis heute in der Erinnerungs- und Trauerkultur nachwirkt: den Wunsch nach Individualisierung, Selbstbestimmung und einer erinnernden Nachwelt.

Jürgen Dinkel (Leipzig)
Das vertauschte Testament – Erbpraktiken zwischen Individualisierung und Routinisierung in Frankfurt am Main, 1900–1960

Das bürgerliche Testament ist das Produkt sowohl von Prozessen der Individualisierung als auch der Standardisierung. Angesichts der wirtschaftlichen und politischen Veränderungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erwies es sich mit seinen individuellen Bestimmungen und dem Anspruch, Nahbeziehungen und Vermögensverhältnisse über einen langen Zeitraum zu ordnen, jedoch häufig als dysfunktional. Diese Erfahrungen führten, so die These des Vortrages, bis in die 1960er Jahre zur Vereinheitlichung und Routinisierung von Testierpraktiken, die den vermeintlich rational-ökonomischen Nachlasstransfer von den moralisch-emotionalen Fragen des Trauerns und Sterbens trennten.

Florian Greiner  (Heidelberg/Augsburg)
Ein moderner „Religionskrieg“? Der Kampf um das richtige Sterben in München, 1978–1997

Der Vortrag untersucht die Phase am Ende des Lebens, in der ein Mensch unheilbar erkrankt ist. Die Zunahme längerer, chronischer Sterbeverläufe ließ dem Thema Sterbebegleitung im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eine neue Bedeutung zukommen. Damit einher gingen neue Unsicherheiten, Handlungszwänge und Deutungskonflikte, wie am Beispiel der Auseinandersetzungen in der Stadt München zwischen Sterbehilfe- und Hospizbewegung, kirchlich-caritativen, gesundheitspolitischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren verdeutlicht wird. Hierüber wird die größere Frage diskutiert, wer mit welchen Interessen definiert, wie ein „gutes Sterben“ zu verlaufen hat – und welche Konflikte dadurch entstehen.

Simone Derix (Erlangen-Nürnberg)
Kommentar
Dietmar Süß (Augsburg)
Kommentar