Julia Angster Almuth Ebke (Sektionsleitung)

Denationalisierung als Gegenstand und Perspektive der Zeitgeschichte

Abstract

Diese Sektion setzt sich mit der Erosion des nationalen Denkrahmens und deren Folgen für Gesellschaftskonzepte, Demokratie und Geschichtswissenschaft auseinander. Der Nationalstaat – und mit ihm die Nationalgesellschaft, die Nationalökonomie und die nationale Kultur – wurden im 19. Jahrhundert zu einem hegemonialen Konzept: seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Lateinamerika, dann in Europa und im Lauf des 20. Jahrhunderts, vor allem im Zuge der Dekolonisierung, auch im globalen Maßstab. Politik, Gesellschaft und Wirtschaft, und nicht zuletzt auch Geschichte, waren nur noch im nationalen Rahmen denkbar. Dieser nationale Denkrahmen, so unser Argument, verlor seit den 1990er Jahren seine hegemoniale Stellung. Die gedachte Ordnung des Nationalen hörte auf, selbstverständlich zu sein. Verlustängste und Deutungskämpfe waren die Folge. Als Grund für diese Erosion wird in der Regel „die Globalisierung“ angegeben: Aufgrund struktureller Globalisierungsprozesse – vor allem im Bereich der Wirtschaft – drohe der Nationalstaat seine Souveränität und Handlungsfähigkeit zu verlieren. Zugleich schien seine Integrationskraft gegenüber lokalen, regionalen und ethnischen Identitäten zu schwinden. Auch die Demokratie schien bedroht, denn nur der Nationalstaat sei imstande, die „demokratische Selbststeuerung einer Gesellschaft“ (Jürgen Habermas) zu garantieren. Tatsächlich ist Globalisierung hier weniger als eine von außen kommende Bedrohung struktureller Natur, sondern vor allem als Diskurs zu verstehen. Der Aufstieg dieses Diskurses zu einer Hegemonialstellung hat viel damit zu tun, dass der nationale Denkrahmen in den 1990er Jahren in der Politik wie in der Geschichtswissenschaft an Bedeutung verlor. Die Erosion der Vorstellung, in geschlossenen Grenzen zu leben und zu handeln, und der Aufstieg des Globalisierungsdiskurses sind daher eng miteinander verbunden. Wir fragen in dieser Sektion, wie sich diese Entwicklung auf Vorstellungen von nationaler Identität, die parlamentarische Demokratie und die Geschichtsschreibung auswirkt. Die Historisierung der nationalen Rahmung von Gesellschaft, Demokratie und Geschichte verlangt zugleich eine Auseinandersetzung mit dem eigenen historiographischen Sehepunkt.

Julia Angster (Mannheim) Almuth Ebke (Mannheim)
Einführung
Almuth Ebke (Mannheim)
Die Debatte um nationale Identität in Großbritannien und die Historisierung der Nation

Die Frage, wofür Großbritannien stehen kann und soll, war nicht erst im Zuge des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union Gegenstand kontroverser Debatten. Bereits in den 1990er und 2000er Jahren diskutierten politische und kulturelle Eliten, welche Eigenschaften am Ende des 20. Jahrhunderts die britische Identität definieren sollten. Britische Historiker waren schon früh an diesen Debatten beteiligt und beeinflussten stark deren Parameter. Der Vortrag fragt nach dem Zusammenhang von diesen Auseinandersetzungen um „Britishness“ und der Historisierung der Nation als Analyseperspektive – ein Zusammenhang, der symptomatisch für die Perspektive der Denationalisierung ist.

Julia Angster (Mannheim)
Die Krise der liberalen Demokratie als Krise der nationalen Ordnung

Der Vortrag vertritt die These, dass die derzeit häufig diagnostizierte Krise der liberalen Demokratie als Krise der nationalen Ordnung gedeutet werden kann, nämlich als Erosion der Vorstellung von Demokratie als Selbststeuerung einer Gesellschaft im territorialen Rahmen des Nationalstaats. Die liberale Demokratie ist auf vielfältige Weise in die nationale gedachte Ordnung eingeschrieben. Sie verbindet Staat, Gesellschaft und Individuum miteinander im umgrenzten Territorium des Nationalstaats. Ihre Infragestellung macht nun sichtbar, wie zentral der nationale Denkrahmen für diese politische und gesellschaftliche Ordnung war.

Silke Mende (Münster)
„Europäisierung“ der Zeitgeschichtsschreibung als „Denationalisierung“ der Perspektive?

Demokratiekonzepte und demokratische Praxis korrespondieren historisch eng mit einem nationalstaatlichen Rahmen sowie damit verbundenen Konzepten wie Staatsterritorium und Staatsbürgerschaft. Ungeachtet transnationaler Trends ist der „Container Nationalstaat“ für die Geschichtsschreibung der Demokratie weiterhin recht solide. Wie lässt sich eine Zeitgeschichte von Demokratie und Parlamentarismus stärker jenseits des Nationalstaats perspektivieren? Anhand dieses Beispiels nimmt der Vortrag aktuelle historiographische Perspektiven in den Blick und fragt nach einer verstärkten „Europäisierung“ der Zeitgeschichtsschreibung, die zugleich Symptom für eine Denationalisierung der Perspektive ist.

Andreas Wirsching (München)
Kommentar