Sebastian Barsch Gabriele Lingelbach Claire Shaw (Sektionsleitung)

Behinderung im späten Staatssozialismus. Alltagsgeschichte von behinderten Menschen in osteuropäischen Gesellschaften

Abstract

Sozialistische Gesellschaften waren in der Regel von Arbeitskräftemangel und einer zentralen Rolle der Arbeit für die gesellschaftliche Position ihrer Mitglieder geprägt. Zugleich betonten die politischen Führungen und Ideologieproduzenten des Ostblocks, im Sozialismus gäbe es keine Diskriminierung auf der Basis von der Norm abweichenden körperlichen oder intellektuellen Fähigkeiten. Die Existenz von Menschen mit Behinderungen, die den systemisch generierten Ansprüchen gegebenenfalls weniger entsprachen, stellte sozialistische Gesellschaften mithin vor spezifische Herausforderungen und führte oft zu einer Diskrepanz zwischen integrativem Anspruch auf der einen und zumindest teilweise diskriminierender Realität auf der anderen Seite. Die vorgeschlagene Sektion lotet aus, wie Menschen mit Behinderungen in unterschiedlichen spätsozialistischen Gesellschaften mit diesem Widerspruch in ihrem Alltag konfrontiert waren. Diese alltagsgeschichtliche Perspektive ergänzt und korrigiert die bisherige Forschung, die sich eher mit (sozial-)politischen und institutionellen Entwicklungen sowie mit dem Wandel von Expertendiskursen beschäftigt hat und Menschen mit Behinderungen daher eher als Objekte des Handelns von Nichtbehinderten betrachtet hat. Dagegen erlaubt die im Fokus dieses Panels stehende Analyse von Alltagshandeln und -erfahrungen, behinderte Menschen auch als Subjekte ihrer Geschichte zu betrachten, die die politischen, institutionellen und wissenschaftlichen bzw. ideologischen Vorgaben, Erwartungen und Angebote teilweise zurückwiesen, teilweise in ihren Alltag integrierten und für sich kreativ adaptierten und darüber hinaus die Rahmenbedingungen zu verändern suchten. Das Panel widmet sich zudem einer bisher von der Forschung zur Disability History vernachlässigten Region und ermöglicht darüber hinaus über die Präsentation unterschiedlicher nationaler Fallbeispiele eine vergleichende und differenzierende Betrachtung.

Gabriele Lingelbach (Kiel)
Moderation
Ulrike Winkler (München)
„Für ‚Unsere Menschen‘!?“ – Wohnen, Arbeiten und Mobilität im Alltag von Menschen mit Behinderungen in der DDR

Die DDR begriff die gesellschaftliche Rehabilitation von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen als staatliche Aufgabe. Während deren Integration in die Arbeitswelt vergleichsweise gut erforscht ist, sind zu den Bereichen Wohnen und Mobilität noch viele Fragen offen. Welche Maßnahmen ergriff der Staat, um körperlich eingeschränkte Menschen in diesen Bereichen zu fördern? Welche Rolle spielten hierbei Kreisärzte und Stadtarchitekten? Welche Ergebnisse wurden in der Praxis erzielt? Und welche Initiativen entwickelten die Betroffenen? Am Beispiel ausgewählter Städte sollen diese Fragen in den Fokus genommen werden.

Pia Schmüser (Kiel)
Familien mit behinderten Angehörigen in der DDR zwischen Arbeitsalltag, Rehabilitation, staatlicher Fürsorge und Teilhabebarrieren

Trotz anfänglicher Skepsis des Staatssozialismus gegenüber der Familie blieb diese Institution auch in der DDR „Keimzelle der Gesellschaft“. Ebenso hielt sich weitgehend das traditionelle Leitbild der female care-givers trotz der umfassenden Integration von Frauen in den Arbeitsprozess. Auch für Menschen mit Behinderungen war die Familie ein zentraler Lebensort. Wie gestalteten sich für ihre Familien Alltag, Reaktionen auf behinderungsspezifische Herausforderungen und Rollen- und Aufgabenverteilung vor dem Hintergrund der DDR-Arbeitsgesellschaft, der „sozialistisch-humanistischen“ Fürsorgeansprüche des Staates und der (diesen oft nicht genügenden) sozialstaatlichen Rehabilitationsmaßnahmen?

Claire Shaw (Warwick)
Making Space(s) for the “People of Silence”. Deaf Culture and Everyday Life in Late Soviet Socialism

In the early 1950s, following sustained lobbying by deaf activists, the Soviet government brought in new legislation to improve the lives of deaf people. This included the creation of spaces for deaf people within the wider community, both literal (deaf factories, living spaces and clubs) and metaphorical (the recognition of the particular visual culture of deaf people). This paper traces the formation of these spaces, which both enabled deaf people to participate fully in Soviet life and marked them out as culturally different to the hearing Soviet community. It thus explores the tension between inclusion and exclusion that defined the lives of disabled people under late Soviet socialism.

Sebastian Barsch (Kiel)
Kommentar