Eric Burton Clemens Pfeffer (Sektionsleitung)

Antikoloniale Befreiungskämpfe im kurzen 20. Jahrhundert in globalhistorischer Perspektive

Abstract

Im frühen 20. Jahrhundert setzte eine Globalisierung des antikolonialen Widerstandes ein, die neue transnationale Netzwerke hervorbrachte und regionale und globale Arenen zur Verhandlung antikolonialer Agitationen schuf. Die Zentren und Knotenpunkte dieses Widerstands verlagerten sich ab den 1950er Jahren zunehmend von den kolonialen Metropolen in den globalen Süden. Konferenzen und internationale Organisationen ermöglichten den Austausch zwischen antikolonialen AkteurInnen unterschiedlicher Weltregionen, beförderten den Blick auf internationale Zusammenhänge und boten Raum für die Entwicklung postkolonialer Ordnungsvorstellungen. Der Schulterschluss zwischen antikolonialen AktivistInnen war jedoch von permanenten Deutungskämpfen und Verhandlungen rassistischer, klassistischer und geschlechterspezifischer Hierarchien begleitet, die Allianzen schnell wieder in Divergenzen und Entflechtungen überführen konnten. Die Sektion nimmt antikoloniale Akteur*innen und ihre Perspektiven auf Befreiung und Unabhängigkeit in den Blick und zeichnet dadurch ein vielschichtiges Bild antikolonialer Ideen und Solidaritäten. Die Beiträge decken das „kurze 20. Jahrhundert“ vom Beginn der 1920er Jahre in der Weimarer Republik über die 1950er Jahre in Ghana, Ägypten und dem afroasiatischen Raum bis in die 1980er Jahre in Tansania ab und ermöglichen so, historische Traditionslinien, diskursive Resonanzen, aber auch Transformationsprozesse in Hinblick auf regionale Zentren und Strategien der Befreiungskämpfe aufzuzeigen. Die empirischen Beiträge beruhen dabei auf der Sichtung bisher (vollständig oder weitgehend) ungenutzter Archivbestände und Erfahrungsberichte, mit denen dominanten Narrative von Antikolonialismus erweitert und hinterfragt werden können. In konzeptueller Hinsicht trägt die Sektion zur Diskussion des Verhältnisses von Nationalismus und Internationalismus sowie staatlichen und nicht-staatlichen Formen des Antikolonialismus bei.

Christoph Kalter (Berlin)
Moderation
Lisa Hoppel (Wien)
Möglichkeiten und Grenzen eines “Internationalistischen Nationalismus”: Panafrikanische Akteure und ihre Nutzung antikolonialer Plattformen des Austauschs

Der transnationale antikoloniale Aktivismus des 20. Jahrhunderts brachte divergierende Konzepte von Freiheit und Souveränität hervor, die von einer historischen und politischen Gegenlogik geprägt und mit internationalistischen Strategien verknüpft waren. Der Beitrag zeigt anhand eines ideengeschichtlichen Abrisses von der Zwischenkriegszeit bis in die 1970er Jahre, wie nationalistische und internationalistische Diskurse gleichermaßen die Dekolonisierungsprozesse beschleunigten, das Projekt der „Dritten Welt“ untermauerten und globale Neuordnungen projektierten. Der für den radikalen Antikolonialismus charakteristische „internationalistische Nationalismus“ mit Deutungskämpfen um das Verhältnis von nationaler Befreiung und internationaler Solidarität wird dabei anhand von AkteurInnen des Panafrikanismus und ihrer Aktivitäten innerhalb antikolonialer Plattformen des Austausches in Europa, Asien und Afrika verdeutlicht.

Clemens Pfeffer (Wien)
Pazifistischer Antikolonialismus in der Weimarer Republik

In der historischen Forschung wird die Entstehung der Liga gegen koloniale Unterdrückung (LgkU) häufig auf Basis russischer Quellen und aus der Perspektive der Komintern interpretiert. Dadurch wird die Beteiligung von PazifistInnen an der LgkU oft als ‚kluge Tarnung‘ der antikolonialen Organisation nach außen gewertet, deren Geschicke im Inneren die ‚kommunistischen Fraktionen‘ lenkten. Antikoloniale PazifistInnen hatten jedoch wesentlichen Anteil am Aufbau antikolonialer Strukturen in Deutschland. Sie ließen schon vor der Gründung der LgkU durch ihre radikal Kolonialkritik aufhorchen und suchten das strategisches Bündnis mit den KommunistInnen im Kampf gegen den deutschen Kolonialrevisionismus. Gegen Ende der 1920er-Jahre mehrten sich die inhaltlichen Differenzen zwischen den Fraktionen und die Dominanz der KommunistInnen führte zum Rückzug der PazifistInnen, die ihre antikolonialen Agitationen andernorts fortsetzten.

Philmon Ghirmai (Berlin)
Transnationale Hintergründe der afrikanischen Dekolonisation

Der Beitrag nimmt auf der Grundlage von Material aus afrikanischen sowie europäischen Archiven Süd-Süd-Netzwerke sowie die von ihnen erdachten postkolonialen Ordnungsvorstellungen in den Blick. Die afrikanische Dekolonisation wurde maßgeblich von einem breiten transnationalen Netz in einem polyzentrischen Machtgefüge vorangetrieben. Der Etablierung der neuen Nationalstaaten gingen komplexe Wechselwirkungen zwischen europäischen Konzepten, globalen Rahmenbedingungen und afrikanischen Entwicklungen voraus, die in der Historiographie lange Zeit übersehen wurden. Bereits seit den 1940er-Jahren hatten sich in afrikanischen (und asiatischen) Ländern antikoloniale transnationale Netzwerke etabliert und Knotenpunkte herausgebildet. Seit den späten 1950er-Jahren fand dies im Besonderen im Kontext internationaler Konferenzen sowie internationaler Organisationen wie der All-African People’s Conferences oder der Afro-Asian Peoples‘ Solidarity Conferences statt, die in Ghana und Ägypten ausgerichtet respektive von dort aus organisiert wurden, um so alternative Foren zu den in dieser Zeit westlich dominierten Aushandlungsräumen internationaler Politik zu etablieren.

Eric Burton (Innsbruck)
Frontline Citizens & Freedom Fighters: Umkämpfte Solidaritäten in Tansania von den 1960ern bis in die 1980er Jahre

Dieser Beitrag diskutiert konkurrierende Diskurse über antikoloniale und Anti-Apartheid-Solidarität in Tansania mittels einer Gegenüberstellung von Elitediskursen einerseits mit Erinnerungen von Exilierten (u.a. aus Südafrika, Angola) und TansanierInnen, die sich in verschiedenen Rollen engagierte, andererseits. Von der Unabhängigkeit 1961/63 bis hin zum Ende der Apartheid 1994 unterstützte Tansania Befreiungsbewegungen. Die staatsgetragene Solidarität unterlag dabei zahlreichen Deutungskämpfen, einerseits über transregionale antikoloniale Solidarität, andererseits über Bemühungen politischer Eliten um die Prägung einer tansanischen Identität als frontline citizens, die Opferbereitschaft sowie Stolz über eine globale Vorreiterrolle bei der Unterstützung von Befreiungsbewegungen in den Vordergrund stellte. Hinter der Fassade panafrikanischer bzw. anti-imperialistischer Einheit wurden so nationalistische Motive und der rassialisierte Gehalt von (Anti-)Kolonialismus verhandelt.

Joseph Ben Prestel (Berlin)
Kommentar