Sandra Dahlke (Chair of the panel)

Competing Memories of the Rus’: Places of Memory in the Early Modern Period

Abstract

Historical narratives play a major role for the definition of national identity, for the legitimization of statehood as well as for the selfpositioning of the post-soviet states in and in relation to Europe. Since the breakdown of the Soviet Union the histories of Ukraine, Belorus’ and – in connection with them – Russia have been subjected to a radical revision. These often highly politicized debates about the origins of statehood notwithstanding, serious research of identity building processes in the settlement areas of the eastern slaves which would take into account a multiplicity of perspectives still remains a desideratum. In order to enable a more rational debate about the origins of the respective statehoods it is necessary to study the creation of protonational mythologies during the Early modern period. Taking this into account the section will raise the following questions: Can we observe collective identity building processes well beyond the local level in the period from the end of the 15th up to the middle of the 18th century? Does it make sense to interpret the protonational mythologies of the eastern slaves within the overall context of a European Early modern type of natiogenese? In order to give an answer to these questions the section uses the concept of “lieux de memoire” (places of memory). The individual papers are focusing on the complex formative processes of different and often contradictory pantheons of the Rus’ during the Early modern period. Taking as examples the myth of the Babtism of the Rus’, the topos of “Moscow”, the historiographic synthesis of the Rus’ in the “Kievian Synopsis” as well as in the ethnogenealogical myth about the “prime fathers” (Prus, Rus, Palemon, Mosoch, Sarmat, Seruh, Chasares) they will discuss some of the most important “lieux de memoire” in the Belorussian, Ukrainian and Russian memory cultures as well as their potential counter-narratives.

Natalija A. Sinkevich (München)
Die Taufe der Rus’ als umstrittener ostslawischer Erinnerungsort

Das Thema der Taufe der Rus’ nahm in den ostslawischen historischen Narrativen der XVII‒XVIII. Jh. einen zentralen Platz ein und war von großer polemischer Bedeutung. Es wurde sowohl von orthodoxen als auch von römisch- und griechisch-katholischen Autoren entwickelt und zur derzeitigen interkonfessionellen Diskussion gestellt. Die unterschiedlichen Autoren erschlossen die der frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung bekannten Ereignisse der Christianisierung der Ostslawen und verwoben diese zu einem mehrstimmigen Diskurs. Die Verbreitung dieser Topoi in Moskauer und Kiewer Texten trug zur Schaffung eines polylateralen Erinnerungsortes der Ostslawen bei, der später von der russischen imperialen Ideologie vereinheitlicht bzw. instrumentalisiert wurde.

Petr S. Stefanovich (Moskau)
„Moskau“ als Topos gemeinsamer Erinnerung der Rus’?

Der Beitrag analysiert die Darstellung Moskaus als sakral-politisches Zentrum Russlands in Texten und bildlichen Darstellungen der Mitte des 16. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. In den Blick genommen werden dabei sowohl die Stadt als Ganzes als auch einzelne Objektgruppen. Er untersucht, auf welche Weise sich der Topos Moskau formierte, wie er verbreitet wurde und wie er sich schließlich gegen Ende des 17. Jahrhunderts als „Erinnerungsort“ (im Sinne Pierre Noras) russländischer Identität etablierte. Im 18. Jahrhundert veränderte sich der inhaltliche und symbolische Gehalt des Topos Moskau. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der „Erinnerungsort“ zum zentralen Bestandteil des modernen Diskurses über die Nation. Diese Funktion füllt er in der zeitgenössischen russländischen Kultur nach wie vor aus.

Ludwig Steindorff (Kiel)
Das Geschichtsbuch „Sinopsis“ von 1674 und 1681 – ein gemeinsamer Erinnerungsort im russischen und ukrainischen Geschichtsbewusstsein

Sieben Jahre, nachdem die Stadt Kiew an das Moskauer Reich gelangt war, erschien 1674 im dortigen Höhlenkloster das Geschichtsbuch „Sinopsis“. Es bietet einen Geschichtsüberblick vom Turmbau von Babel bis in die Gegenwart und ist für die Zeit ab der Christianisierung auf Kiew konzentriert. Das Werk steht in der Tradition humanistischer Gelehrsamkeit, für die jeweilige Nation (im vormodernen Sinne) das gewachsene mittelalterliche Narrativ der „eigenen“ origo gentis sowohl mit der Welt des Alten Testamentes als auch mit der griechisch-römischen Antike zu verbinden. Erst in der Auflage von 1681 erfolgte durch Einschübe eine enge Verflechtung mit der Geschichte des Moskauer Reiches.

Andrej V. Doronin (Moskau)
Die Rus‘ der Frühmoderne auf der Suche nach ihren „Urvätern“

Weder im Alten Testament noch in den trojanischen Sagen, noch in der römischen Mythologie, die ein universelles Weltbild entwarfen und verbreiteten, noch in den Chroniken über die Entstehung der Volksstämme in der Zeit der Völkerwanderung finden die Rus‘ und die Moskowiter Erwähnung. Mit dem Zeitalter der Renaissance wurden historische Erzählungen unter den europäischen Mächten zu einer notwendigen Praxis, die der Legitimation und Verteidigung von Machtansprüchen diente. Der Beitrag zeichnet nach, wie sich die Rus‘ und die Moskowiter in der Frühen Neuzeit in die allgemein europäischen historiographischen Erzählungen vom Ursprung der Welt einschrieben und ähnlich wie die anderen europäischen Völker nach ihren Urvätern suchten. Hierdurch formulierten sie ihren Anspruch auf einen Platz im frühneuzeitlichen Europa.