Marc von der Höh Hanna Wichmann (Sektionsleitung)

Familiäre Wahrheiten und prekäres Wissen. Medien- und wissenshistorische Zugänge zu den europäischen Familienbüchern des Spätmittelalters

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Abstract

Familiäre Gruppen sind Wissens- und Wahrheitsgemeinschaften ganz eigener Art. Ihrem Selbstverständnis nach durch Verwandtschaft konstituiert, beruhen sie dennoch wesentlich auf geteiltem Wissen über die eigene Vergangenheit und Gegenwart. Die innerfamiliären Kommunikationsprozesse, die dieses Wissen hervorbringen, verbreiten und modifizieren, entziehen sich jedoch lange Zeit dem Blick des Historikers. Erst im Spätmittelalter werden die Quellen belastbarer, wobei eine besondere Rolle den erst seit wenigen Jahren erforschten Familienbüchern zukommt, die fast zeitgleich in Italien und Deutschland entstehen. In diesen wird von einem oder mehreren Familienmitgliedern Wissen über die eigene Familie und deren Einbindung in die jeweilige soziale Umwelt verschriftlicht.

Die Sektion geht der Frage nach, wie mit diesen Familienbüchern das auf Vergangenheit und Gegenwart der Familie bezogene mehr oder weniger triftige Wissen abgesichert, durchgesetzt und verbreitet wurde. Aufgrund der sozialen Konkurrenzsituation, in der die Familienbücher entstanden sind, kommt dabei insbesondere der Authentifizierung und Plausibilisierung des Wissens über die Familie besondere Bedeutung zu.

In den Vorträgen soll eine Vielzahl von Zugängen erprobt werden: neben der Analyse spezifischer Textstrategien und Referenzierungsverfahren, mit denen das Wissen über die Familie abgesichert wurde, wird zugleich die Ebene der Materialität berücksichtigt werden, schließlich soll es auch um die beteiligten Akteure sowie die rekonstruierbaren Rezeptionssituationen gehen. Zudem wird mit einer europäisch vergleichenden Perspektive erstmals ein entsprechendes Desiderat der Forschung aufgegriffen.

Insgesamt verortet sich die Sektion an der Schnittstelle zwischen vormoderner Verwandtschaftsforschung und der Wissensgeschichte des Spätmittelalters, die beide in letzter Zeit zahlreiche neue Impulse erhalten haben.

Marc von der Höh (Rostock)
Familiäre Wahrheiten und prekäres Wissen. Zur Einleitung
Gregor Rohmann (Frankfurt am Main)
Wessen Fakten? Dienten die Augsburger Ehrenbücher der familiären Statusrepräsentation?

Dienten bebilderte Familienbücher der Statusrepräsentation? Vergleicht man die Ehrenbücher, welche der Augsburger Chronist Clemens Jäger ab ca. 1540 für mehrere Ratsfamilien produziert hat, so fallen große Schwankungen in der künstlerischen Qualität auf. Offensichtlich musste der Verfasser die Ausstattung selbst vorfinanzieren. Das Ehrenbuch funktionierte also weniger als familiäre Repräsentationsobjekte als vielmehr als Gegenstand eines Gabentausches in einer Patronage-Beziehung. Dies wirft ein neues Licht auf die Funktionen familiärer Chronistik allgemein.

Hanna Wichmann (Rostock)
Fragile Erinnerungen. Die Konstruktion von Wahrheiten am Beispiel der Florentiner Familienbücher

Die Konstruktion von Wahrheiten und alternativen Fakten ist in den Florentiner Familienbüchern ein prominent auftretendes Phänomen, das gezielt durch die Autoren eingesetzt wurde, um familiäres Wissen zu sichern, aber auch zu beeinflussen. Welche Themen sie bewegt und welche Ziele bzw. Motive sie leitete, soll in dem Vortrag unter anderem anhand der Ricordi des Bonaccorso Pitti vorgestellt werden. Der Untersuchungsgegenstand wird mithilfe verschiedener Analysemethoden betrachtet und bezüglich der Familie als soziale Wissens- und Wahrheitsgemeinschaft erörtert.

Marco Tomaszewski (Freiburg)
Inszeniertes Wissen. Familienbücher, mediale Praktiken und soziale Ungleichheiten

Im Umgang mit Familienbüchern wurden mediale und kommunikative Praktiken zwischen vordergründiger Geheimhaltung und kontrollierter Öffentlichkeit unter Anwesenden zur Inszenierung von Wissen eingesetzt und zugleich sozioökonomische, politische oder geschlechterbezogene Ungleichheiten (re)produziert. Damit sind Familienbücher auch als Phänomene einer zunehmenden Bedeutung von Verwandtschaft seit dem Spätmittelalter zu sehen. Diese Aspekte werden exemplarisch und epochenübergreifend beleuchtet und außerdem gefragt, inwiefern Familienbücher tatsächlich als exklusiv städtische Phänomen gelten können.

Lisa Kaborycha (Prato)
Florentine Zibaldoni: Edifying Facts and Fictions in Renaissance Family Books

Constructing memory for the family and its descendants was the motivation for Florentines during the 14th through 16th centuries to copy hundreds of diverse vernacular texts into their zibaldoni. Both informal literary anthologies and commonplace books, the survival of thousands of these manuscripts proves the success of the strategy defined by one contemporary compiler as “to build an edifice in our memory.” Alongside other writings such as memoirs (known as ricordi or ricordanze), and personal letters, these family scrapbooks provide unparalleled insights into the knowledge worlds of Renaissance Florentine men and women.

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