Fakten zwischen historischer Forschung und Vergangenheitsaufarbeitung: „Commissioned history“ und Wissensproduktion für die und mit der Öffentlichkeit
Abstract
Sind Gesellschaften mit massivem vergangenem Unrecht konfrontiert, beauftragen staatliche, aber auch nicht staatliche Akteure zunehmend ad hoc gebildete Kommissionen – Untersuchungskommissionen, Expertenkommissionen, Wahrheitskommissionen –, aber auch Forschende an Universitäten mit der Untersuchung der historischen Sachverhalte. Die Arbeit im Rahmen dieser „commissioned history“ findet in einem grundlegenden Spannungsverhältnis statt. Einerseits produzieren die Kommissionen und die mit entsprechenden Aufarbeitungsprojekten beauftragten Historikerinnen und Historiker Wissen über die Vergangenheit mit einem wissenschaftlichen Objektivitätsanspruch. Die Wissenschaftlichkeit der Erzeugung dieses Wissens ist entscheidend für die intendierte Wirkung in der Öffentlichkeit. Andererseits integrieren die Kommissionen und Projekte in der Regel Betroffene – und damit Teile der Öffentlichkeit – in ihre Arbeit, am häufigsten, indem diese im Rahmen der Untersuchungen Aussagen über das Vergangene machen, Zeugnis ablegen können. Die Erinnerungen an die gemachten Erfahrungen und die mit den Aussagen verknüpften Erwartungen derer, die Zeugnis ablegen, sind nicht ohne weiteres in Übereinstimmung zu bringen mit den epistemologischen Ansprüchen der Kommissionen und Forschenden.
Das Panel diskutiert an Beispielen verschiedener Typen von „commissioned history“, wie Kommissionen und Forschungsprojekte im Rahmen ihres Aufarbeitungsauftrags mit dieser Spannung umgegangen sind. Es fragt, wie sich die Herausforderung ihres Ziels, historische Fakten zu etablieren, durch die Integration erinnerungsbasierter Erzählungen der vom untersuchten vergangenen Unrecht Betroffenen auf ihre Tätigkeit und die abschliessende Präsentation ihrer Ergebnisse ausgewirkt hat.
Wahrheitskommissionen sind immer wieder als offizielle Einrichtungen beschrieben worden, die den Opfern von schweren Menschenrechtsverletzungen eine Stimme geben. Tatsächlich ist das Anhören von Beteiligten ein konstitutiver Bestandteil der Arbeit dieser Kommissionen gewesen. Zugleich hat deren fundamentale Funktion jedoch in der Feststellung von Fakten über vergangene Menschenrechtsverletzungen bestanden. Der Beitrag betrachtet, wie Wahrheitskommissionen den Wahrheitsanspruch an das von ihnen produzierte Wissen mit dem wesentlichen Element ihrer Tätigkeit, Anhörungen von Betroffenen durchzuführen, vereint haben, und analysiert die Bedeutung der Zeugnisse für die Arbeit der Kommissionen.
Ebenso wie andere Länder bediente sich auch das vereinigte Deutschland verschiedener Instrumente der Transitional Justice, um das Erbe der kommunistischen Herrschaft aufzuarbeiten, darunter zwei Enquete-Kommissionen zu Geschichte und Folgen der SED-Diktatur. Der Beitrag beleuchtet, mit welchen diskursiven und performativen Strategien die beteiligten Akteure versucht haben, mit dem Spannungsverhältnis zwischen fachwissenschaftlichen Standards und opferzentrierten Geschichtserzählungen umzugehen.
Darüber hinaus wird am Beispiel der Kommissionen die Frage nach der Rolle von Aktivisten-Historikern in der bundesdeutschen Geschichtskultur und deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit aufgeworfen.
Gestützt auf das Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen hat der Schweizer Bundesrat 2014 eine Unabhängige Expertenkommission eingesetzt. Sie erhielt den Auftrag, die Praxis administrativer Internierungen als sozialpolitisches Instrument vor 1981 zu untersuchen. Das Forschungsprogramm konzentrierte sich auf die Rolle des Staates und gesellschaftlicher Akteurinnen und Akteure sowie auf die biografischen Erfahrungen von Betroffenen in der Zeit zunehmender sozialstaatlicher Sicherung. Der Vortrag beleuchtet die Arbeit der Kommission mit besonderem Blick auf die Umsetzung des Auftrags, Betroffene einzubeziehen.
Seit Jahren erschüttert der Skandal des sexuellen Kindesmissbrauchs in der katholischen Kirche die Öffentlichkeit. Mehrere Studien sind inzwischen veröffentlicht, die das Ausmaß der Taten unter Beweis stellen, darunter im Sommer 2022 auch eine erste dezidiert geschichtswissenschaftliche Studie (zum Bistum Münster). Ausgehend von dieser Studie wird
diskutiert werden, welche – und nicht selten konfligierenden – Erwartungen vonseiten der Betroffenen, der Kirchenleitungen sowie der Medien dem Forschungsprojekt entgegengebracht wurden und wie sich insbesondere mit ‚fragilen Fakten‘ – etwa aufgrund unklarer Aktenlage und äußerungsrechtlicher Grenzen – in der konkreten Forschung umgehen lässt.