Daniel Siemens Iris Nachum (Sektionsleitung)

Fragile Facts or Factual Fragilities: German Reparations After 1945 in Theory and Practice

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Abstract

In both public and academic discussions, there is generally agreement that the pursuit of truth and efforts towards compensation should go hand in hand. In the past three decades, the development of transitional justice and the numerous "truth commissions" worldwide have underscored this view. The goal of many of these bodies is to provide reparations by uncovering facts about past human rights violations, allowing for reconciliation and accountability.

Only recently have scholars begun to examine the complex relationship between truth and compensation more closely by critically examining both the strategies of the actors involved in compensation and the temporal dimension of historical processes. Our panel builds on this by discussing the following guiding questions:

Did German post-war compensation actually aim to uncover and establish historical truths, or did it rather promote fragile facts about German history in practice? Did German compensation payments for Holocaust survivors and refugees contain theoretical justifications that were factually disputed, and if so, how was this problem addressed? Who (if anyone) reflected on the factual fragility of German compensation, and why? Did such reflection lead to a challenge to the practices and norms of compensation? To what extent can a critical examination of the historical constellation of truth and practice in post-war German restitution stimulate current research on global reparations?

These questions are explored through six case studies that address key aspects of German compensation in the post-war period and invite critical discussion about their place in global and contemporary history.

Constantin Goschler (Bochum)
Die Epistemologie der Restitution: Verbrechen, Justiz und Wahrheit in der deutschen Wiedergutmachung

Die deutsche Wiedergutmachung war ein kompliziertes und über die Jahre veränderliches System von rechtlichen Regelungen und Praktiken, mit denen Leistungsansprüche von NS-Verfolgten festgestellt werden sollten. Autobiographische und juristische Logiken stießen dabei permanent aufeinander und resultierten schließlich auch in Wiedergutmachungsnarrativen, die sich über die Jahrzehnte hinweg gleichfalls veränderten. Der Vortrag diskutiert die daraus resultierenden Probleme am Beispiel der Entschädigungsforderungen jüdischer Ghettoinsassen vom Bundesentschädigungsgesetz bis zum Ghettorentengesetz: Wie wurden in wechselnden Verfahrenszusammenhängen Fakten und Wahrheiten produziert? Und wie beeinflussten sich dabei rechtliche Strukturen, Verfolgungsnarrative und die historische Erforschung der NS-Verfolgung gegenseitig?

Sheer Ganor (Minnesota)
In Validation of Their Pasts: Assembling Facts and Making Memory in Reparations Claims

This presentation approaches post-Holocaust reparations as a collaborative project that extended throughout the globally dispersed communities of displaced German Jews. The bureaucratic apparatus created by West German reparations legislation facilitated a transnational channel of communications in which claimants sought the support of people who could help them substantiate the reality of their previous lives. Using archival records of German-Jewish claimants in different countries, I show how, across this channel of communication, parallel narratives converged and memories were translated into evidentiary material to face the requirements of the law. To make a stronger case for themselves and successfully face contestation, claimants had to assemble reparations files that spoke in multiple voices. They turned to people and places that inhabited their former lives and collected evidence that helped make the facts of their pasts less fragile to legalistic scrutiny.

Anna Corsten (Jena)
Deutsche Bürokratie, nationalsozialistische Vergangenheit und brüchige Fakten: Restitutionsfälle des Vermögens des Zweckverbandes Reichsparteitag Nürnberg

Bei der Umsetzung der Rückgabegesetze in Westdeutschland präsentierten mehrere Staatsbeamte fragwürdige Fakten zur Beschlagnahmung jüdischen Eigentums während des NS-Regimes, um die fraglichen Besitztümer als Staatseigentum zu sichern. So argumentierten beispielsweise die Treuhänder des Zweckverbands Reichsparteitag Nürnberg (ZRN), dass das NS-Parteigelände rechtmäßig dem bayerischen Staat gehöre. Die Ansprüche der enteigneten jüdischen Familien wurden abgelehnt. In diesem Vortrag werden die Argumente der einzelnen Parteien (der jüdischen Familien, der Treuhänder und der bayerischen Staatsregierung) während des Rechtsstreits sowie deren jeweilige Interessen dargelegt. Darüber hinaus wird aufgezeigt, dass die mit dem Fall befassten Beamten die nationalsozialistische Vergangenheit in einer Weise darstellten, die nicht selten im Gegensatz zu den Berichten der Opfer, der aktuellen Gesetzgebung und den bereits in den ersten Nachkriegsjahren verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen stand.

Iris Nachum (Jerusalem)
"Ein Netz aus Lügen?“ Entschädigungsanträge von vertriebenen "Ariseuren“

Im Vortrag geht es um Entschädigungsanträge, die vertriebene „Ariseure“ im Rahmen des Lastenausgleichsgesetzes in den 1950er und 1960er Jahren gestellt haben. Das Hauptziel des 1952 erlassenen Gesetzes war es, „Volksdeutsche“ für Vermögensverluste zu entschädigen, die ihnen im Zuge ihrer Flucht und Vertreibung aus Mittel- und Osteuropa zu Kriegsende entstanden sind. Das Gesetz legte dabei ausdrücklich fest, dass kein Anspruch auf Ausgleichsleistungen bestehe für „Vermögensgegenstände, die in Ausnutzung von Maßnahmen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erworben worden sind“. Der Vortrag vertritt die These, dass ehemalige „Ariseure“ sich in ihren Entschädigungsanträgen systematisch „Fake News“ bedienten – also falsche Tatsachen vorspiegelten – um den Umstand zu verschleiern, dass „ihr“ verlorenes Vermögen ursprünglich aus jüdischem Besitz stammte. Anhand mehrere Fallbeispiele wird gezeigt, auf welchen „fragilen Fakten“ die Anträge beruhten und wie die Ausgleichsämter mit dieser „faktischen Fragilität“ umgegangen sind.

Daniel Siemens (Newcastle)
Historische Gerechtigkeit auf dem Rechtsweg? Die Zeitschrift „Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht“ (1949-1981) und ihr Einfluss auf die deutsche Wiedergutmachung

Die von 1949 bis 1981 erschienene Zeitschrift „Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht“ (RzW) war die einzige wissenschaftliche Zeitschrift in deutscher Sprache, die sich auf Restitutions- und Entschädigungsfragen spezialisierte. In diesem Beitrag wird ihr Einfluss auf den politischen Diskurs und die rechtliche und administrative Praxis der deutschen Wiedergutmachung in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten analysiert. Ausgehend von Niklas Luhmanns Ideen zur Systemtheorie des Rechts wird die These vertreten, dass es nicht zuletzt der faktische Auf- und Ausbau der Restitutionsgesetze in den 1950er und 1960er Jahren war, der im Laufe der Zeit selbst zunächst kritische Juristen wie den Herausgeber der RzW, Walter Schwarz, dazu brachte, die Praxis der deutschen Wiedergutmachung als “gerecht” zu akzeptieren. Viele der zunächst kontroversen Debatten über die Angemessenheit der sich herausbildenden Wiedergutmachungspraxis und ihre politischen Zielsetzungen gerieten daraufhin in Vergessenheit.

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