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Der Berichtsband erscheint voraussichtlich im Sommer 2009. Wir werden Sie an dieser Stelle weiterhin informieren.
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Vortragstitel:
Adel im sächsisch-böhmischen Grenzraum. Herrschaftserfahrung und Herrschaftspraxis in der FNZ
Tag:
01.10.2008
Epoche:
Epochenübergreifende Sektion
Sektion:
Asymmetrien in Vergangenheit und Gegenwart. Deutsche und Tschechen als ungleiche Nachbarn?

Abstract:

Einführung

Referent/in: Martina Schattkowsky, Dresden

Nach Auffassung der traditionellen Agrargeschichtsforschung haben sich die Asymmetrien zwischen Kursachsen (ohne die Oberlausitz) und Böhmen nach 1600 beträchtlich vertieft. Demnach bildete die sächsisch-böhmische Grenze in der Frühen Neuzeit die Trennlinie zwischen zwei ungleichen ländlichen Herrschaftssystemen. Gemeint sind die Agrarverfassungstypen Gutsherrschaft und Grundherrschaft, die hier im Grenzraum aufeinander trafen: Auf der böhmischen Seite verortet man die Gutsherrschaft mit konzentrierten Herrschaftsrechten, mit umfangreichen herrschaftlichen Eigenwirtschaften und oft willkürlichen Herrschaftsformen des Adels, verbunden mit Leibeigenschaft, ungemessenen Fronen und Bauernlegen; in Kursachsen die Grundherrschaft mit der Dominanz von Bauernland, mit intakter handlungsfähiger Gemeinde, überwiegenden Natural- und Geldabgaben sowie mit günstigen Besitzrechten und persönlicher Freiheit der Bauern.
Seit geraumer Zeit hat sich die Forschung von einer starren Grenzziehung zwischen „Gutsherrschaft" und „Grundherrschaft" verabschiedet und verweist vielmehr auf die Gemengelage verschiedener Agrarverhältnisse auf beiden Seiten. So wie einerseits Böhmen auch grundherrlich geprägte Inseln aufwies, gilt andererseits Kursachsen als Übergangsgebiet zwischen gutsherrlichem Osten und grundherrschaftlichem Westen. Das heißt: Auch in Sachsen existierten zahlreiche Rittergüter mit herrschaftlichen Eigenwirtschaften, auch hier gab es deutliche Tendenzen zum Ausbau dieser Güter auf Kosten von Bauernland und zur Intensivierung adliger Zwangsmittel.
Von der Gesamttendenz her kam es jedoch in Kursachsen - anders als im benachbarten Böhmen - ausgehend von der Rittergutswirtschaft nicht zum zweiten Schritt hin zur Gutsherrschaft. Die Erklärungsangebote der Forschung reichen von der Bodenbeschaffenheit und der Nachfrage nach Getreide, über den Zugang zu städtischen Märkten und bäuerlichen Widerstand bis hin zur Machtverteilung zwischen Landesherrschaft und Ständen.
Letzterer Aspekt steht im Mittelpunkt des Vortrages: Ausdrücklich bezogen auf Güter des kursächsischen Niederadels sowie auf aristokratische Großgrundbesitzer in Böhmen geht es aus vergleichender Perspektive um das Verhältnis von Staat und Grund- bzw. Gutsherrschaft in Sachsen und Böhmen. Speziell wird die Frage gestellt, ob und wie sich jeweils staatliche Politik und Gesetzgebung im Bereich lokaler Herrschaften umsetzen ließen. Kam dabei der viel beschworenen landesherrlichen Bauernschutzpolitik tatsächlich jenes von der Forschung beschriebene Gewicht zu?
Was Böhmen anbelangt, hat die lokale Einflussnahme der Habsburger und ihrer zentralen Behörden in letzter Zeit verstärkte Aufmerksamkeit gefunden: Zu verweisen ist u. a. auf das von Josef Ehmer und Michael Mitterauer geleitete Forschungsprojekt „Soziale Strukturen in Böhmen in der Frühen Neuzeit" oder auf den Band „Die Habsburgermonarchie 1620 bis 1740" von Petr Mat'a und Thomas Winkelbauer. Fast durchgängig stößt man dabei für Böhmen auf die These vom absenten Staat auf lokaler Ebene.
Blickt man auf Kursachsen, wird die Diskussion über die Wirkungsmächtigkeit staatlicher Politik und Gesetzgebung bislang eher zögerlich aufgegriffen. Im Gegensatz zu Böhmen gilt hier allerdings die landesherrliche Bauernschutzpolitik des frühmodernen Kurstaates von jeher als feste Größe. Ihre konkrete Umsetzung vor Ort ist jedoch weitgehend unerforscht. Hier setzt der Vortrag an und erörtert anhand von sächsisch-böhmischen Beispielen die Wechselwirkung von obrigkeitlichen Institutionen und lokalen Herrschaftsstrukturen.
Im Ergebnis der vorliegenden Beobachtungen ergeben sich Unterschiede zwischen beiden Territorien vor allem im Hinblick auf die Voraussetzungen, Formen und Erfolgsaussichten des bäuerlichen Widerstandes, die örtliche Rechts- und Verwaltungspraxis sowie die landesfürstliche Gesetzgebung.
Unübersehbar sind dabei prinzipielle strukturelle Divergenzen: Im Vergleich zu einem mittleren Reichsterritorium wie Sachsen musste im gewaltigen Imperium der Habsburger ein Anspruch auf Homogenisierung von vornherein als wenig realistisch erscheinen. Hinzu kommt Folgendes: Während in Böhmen zwischen Krone und Untertanen die aristokratischen Mediatgewalten mit eigenen Verwaltungsbehörden eingeschaltet waren, konnten die kursächsischen Untertanen viel leichter Kontakt zu den lokalen Herrschaftsvertretern ihres Landesfürsten aufnehmen. Auf diese Weise war der Einzelne intensiver in den frühmodernen Fürstenstaat integriert. Dies steigerte die Chancen des sächsischen Kurstaates bei der Kontrolle und Sozialdisziplinierung seiner Untertanen in einem Maße, das weit über die Möglichkeiten in den großen europäischen Monarchien hinausging. Habsburg ließ sich eben in dieses Schema der politischen Kultur des Alten Reichs nicht so einfach einpassen.