Die Abstracts der Sektionen wurden aktualisiert

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Der Berichtsband erscheint voraussichtlich im Sommer 2009. Wir werden Sie an dieser Stelle weiterhin informieren.
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Ungleichheit der Gleichen. Religiöse Egalität und soziale Distinktion in sakralen Räumen des Spätmittelalters

Leitung: Andreas Ranft, Halle-Wittenberg / Matthias Meinhardt, Halle-Wittenberg

  1. Raumperspektiven. Eine Einführung
    Referent/in: Andreas Ranft, Halle-Wittenberg
  2. Templum und Corpus. Die Sakralhierarchie des Kirchenraumes zwischen Ungleichheit und Einheit
    Referent/in: Thomas Lentes, Münster
  3. Die Pfarrkirche als Ort sozialer Distinktion
    Referent/in: Arnd Reitemeier, Kiel
  4. Privat und privilegiert – Seitenkapellen und Nebenaltäre in norddeutschen Kirchen
    Referemt/in: Antje Heling-Grewolls, Lübeck
  5. Chorus und capella – musikgeschichtliche Implikationen einer räumlichen Dichotomie
    Referent/in: Wolfgang Hirschmann, Halle-Wittenberg
  6. Reflektierte Räume. Zusammenfassung und Ausblick
    Referent/in: Matthias Meinhardt, Halle-Wittenberg

Abstract zur Sektion

Zahlreiche Kirchenräume führten es den Besuchern mit viel materiellem und bildkünstlerischem Aufwand unmissverständlich vor Augen: jeder, ganz ungeachtet seiner weltlichen Stellung, hat sich am Ende aller Tage vor einer höheren Instanz für seinen Lebenswandel zu verantworten. So wiesen Darstellungen des Jüngsten Gerichts auf die egalisierende Vorstellung der Endlichkeit irdischer Existenz hin und schieden allein zwischen dem Schicksal der Sünder und der Gottgefälligen. Als das Sterben durch die Drangsale der spätmittelalterlichen Seuchenzüge zunahm, stellten auch die literarisch inspirierten Totentanzszenen dies heraus und betonten dabei ganz nachdrücklich die Gleichheit der Menschen am Ende des irdischen Weges: Ob geistlicher Würdenträger oder weltlicher Herrscher, ob Bürger oder Bauer, ob Mann oder Frau, ob arm oder reich, ob jung oder alt, die Sterblichkeit des Menschen macht alle gleich, niemanden verschont der Tod. Kein Aufhäufen von irdischen Gütern, Macht oder Ansehen vermag daran zu rütteln. Trost wie Mahnung konnte darin gesehen werden.
In einer merkwürdigen Spannung hierzu stehen die vielen Zeugnisse, die im Kirchenraum gerade nicht die Gleichheit, sondern in hohem Maße soziale Distinktion zur Schau stellten: Aufwendig gestaltete Grabanlagen, die von Ruhm und Einzigartigkeit der Verstorbenen kündeten; besonders ausgestaltete Altäre und Kapellen, über die sich soziale Gruppen scharf voneinander geschieden um Repräsentation bemühten; architektonische Gliederungen und differenzierte Ausstattungselemente, die weniger liturgisch-funktionalen Erwägungen als vielmehr dem Streben nach sozialer Exklusivität folgten. Vom reservierten Gestühl bis zu separaten Logen mit eigenen Zugängen konnten hier die Mittel reichen. Aber auch performativ wurden soziale Grenzen im Kirchenraum dargestellt und hörbar gemacht, so waren beispielsweise Taufen, Hochzeiten, Begräbnisse, Totengedenken oder kirchliche Feste Handlungen, die zumeist in offensichtlicher sozialer Gebundenheit und unter Betonung von Rangabstufungen inszeniert wurden. Das Bemühen um Bestätigung und Festigung sozialer Zusammenhänge und Hierarchien ist hierbei kaum zu übersehen. Kirchen waren also mithin keineswegs homogene Räume, in dem Menschen die egalisierende Tatsache ihrer befristeten Existenz ins Zentrum rückten, sie diese ganz unwidersprochen akzeptierten. Vielmehr waren gerade sakrale Räume in Anlage, Ausstattung und Nutzung vielfältig und fein sozial differenziert. Mittelalterliche Kirchen lassen sich somit als Darstellungsräume sozialer Ungleichheit lesen. Insofern sind sie Resultat und Spiegel gesellschaftlicher Wirklichkeit. Zugleich waren Raumbesetzungen und Raumgestaltungen gerade im sakralen Bereich aber auch Instrumente, mit denen Individuen und Gemeinschaften sich nach innen konsolidierten und nach außen in Konkurrenz und Konflikt traten, so dass sie auch als Medien sozialer Distinktion gedeutet werden können.
Die Sektion hat diese unterschiedlichen Wahrnehmungen fächerübergreifend und systematisch unter Nutzung des Vorzuges erhöhter Messgenauigkeit einer zeitlichen Konzentration auf das späte Mittelalter in insgesamt sechs Beiträgen ausgelotet. Zu Beginn suchte Andreas Ranft in seiner Einführung die Leitfragen näher zu bestimmen. Zunächst interessierte das theologische Fundament, auf dem sakrale Räume zu Orten intensivierter Bemühung um soziale Distinktion wurden. Auch die Frage nach Kritik und Akzeptanz der Instrumentalisierung des Sakralraumes zum Zwecke sozialer Differenzierung wurde aufgeworfen. Sodann sollte es um die Akteure gehen, also um die Frage nach den Individuen und Gruppen, die den Kirchenraum zur sozialen Distinktion nutzten und jenen, die von solcher Praxis ausgeschlossen waren. Und schließlich sollten die Formen und Medien sozialer Distinktion aufgedeckt werden.
Erste Antworten gab Thomas Lentes. Deutlich wurde in diesem Vortrag zunächst, dass der sakrale Raum theologisch fundiert Einheit stiftete, somit in gewisser Weise entgrenzte. Er führte die Gläubigen zur Gemeinschaft zusammen, er verband die Gegenwärtigen mit der langen Zeitlinie der Heilsgeschichte und konstituierte so einen gemeinsamen Ort von Lebenden und Toten. Doch hoben diese Formen der Einheitsstiftung die sozialen Ungleichheiten auch im Kirchenraum nicht auf. Im Gegenteil, der Sakralraum besaß eine gestufte Sakralität, aus der sich ein Teil der Differenzen überhaupt erst ergab: Zugänge eröffneten sich mit theologischer Begründung den Einen, den Anderen wurden sie verwehrt. Reinheitsgedanken und die Etablierung von Taburäumen waren hier zentrale Begriffe. Trennungen von Klerikern und Laien, von Männern und Frauen fanden reale Umsetzung und symbolische Signaturen. Die Theologie des Kirchenraumes führte also auf einen wichtigen Ursprungsort sozialer Distinktion, der Wirksamkeit über den Kirchenraum hinaus zeigte. Und auch die vielbemühte „Corpus"-Metapher dämpfte zwar die Distinktionsschärfe, ließ sich aber nicht als egalisierendes Konzept verstehen, da hierarchische Gliederungen stets mitgedacht blieben. Lentes hat darüber hinaus auch gezeigt, welchen Bruch die theologische Neukonzeption des Kirchraumes mit ihrer Desakralisierung bei Luther und seinen Nachfolgern markierte und somit vor diachronen Betrachtungsweisen gewarnt, die vorschnell konzeptionelle Trennlinien einebnen.
Fokussiert auf die Pfarrkirchen als besonders gewichtiger Teil der mittelalterlichen Sakralräume, markierte Arnd Reitemeier präzise die Hauptlinien sozialer Distinktion. Dabei verwies er nicht nur auf die grundsätzliche Trennung in Kleriker und Laien, sondern zeigte darüber hinaus die breite Ausdifferenzierung der Laien auf und kennzeichnete wesentliche Faktoren, die über die Frage entschieden, wer den Kirchenraum für eigene Interessen nutzen konnte. Der Besitz des Bürgerrechts, die Bekleidung bestimmter politischer Ämter, die Mitgliedschaft in verschiedenen Korporationen, damit eng verknüpft die Frage nach dem Rang in Hinblick auf Macht und Ehrkapital, die Höhe des Vermögens, die Frage nach familiärer Herkunft, das Geschlecht und schließlich die Reflektion von sozialem Rang, politischem Einfluss und materiellen Möglichkeiten durch Aufwand und Stil der Bekleidung, all dies konnte von Belang sein. Wie wenig die Formierung zur Pfarrgemeinde - die ja eigentlich als Einheit stiftender Prozess zu begreifen ist - soziale Differenzen aufhob, kam eindrucksvoll zur Darstellung.
Mit der Bekleidung war bereits in diesem Vortrag die Frage nach den im Kirchenraum genutzten Formen und Medien sozialer Distinktion berührt. In diesem Zusammenhang haben dann die reich bebilderten Ausführungen von Antje Heling-Grewolls tief in das Repertoire architektonischer und bildkünstlerischer Möglichkeiten blicken lassen. Hingewiesen wurde auf die Bedeutung der Seelmessenstiftung, des Kaufes eigener Kapellen, der Einrichtung von Grablegen und des Besitzes von exklusivem Gestühl, der Stiftung von Altären, Bildern und Schmuckwerk. Besonders augenfällig wurde in diesem Beitrag das Spannungsverhältnis von grundsätzlicher Öffentlichkeit des Kirchenraumes und seiner mit der Stiftungspraxis und Selbstdarstellung einzelner Personen oder Gruppen einhergehenden besitzrechtlichen Privatisierung.
Eine solche Tendenz hat auch Wolfgang Hirschmann anhand der musikalischen Praxis vorgeführt. Er verwies damit auf eine Facette des Themas, welche die historische Forschung bislang zu Unrecht kaum beachtet hat. Insbesondere weil die Musik, wenn sie zur Ausstattung einer Stiftung gehörte, eine besonders teure und exklusive Angelegenheit war, kommt ihr für das Problemfeld sozialer Distinktion in sakralen Räumen eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Wichtig ist aber auch, dass sie zur Differenzierung des Kirchenraumes beitrug, sie noch verstärkte, was nicht zuletzt in der sprachlichen wie funktionalen Dichotomie von Capella und Chorus zu fassen ist. Die Capella ist - ganz ähnlich wie bei der visuellen Ausgestaltung - der Ort gesteigerter Privatheit und damit höherer Individualität. Im Kontext mittelalterlicher Stiftungspraxis, die sich nicht zuletzt aus dem Bemühen um soziale Distinktion speiste, haben sich Form und Charakter des Musizierens fortentwickelt.
Im Schlussbeitrag skizzierte Matthias Meinhardt das terminologische Bezugsfeld der Sektion und verortete darin die einzelnen Beiträge. Die Leitbegriffe Raum, Sakralität und Ungleichheit, die bereits im Sektionstitel explizit genannt wurden, ergänzte er noch um Repräsentation, Öffentlichkeit und Kommunikation, die er implizit angesprochen sah. Sodann schlug er vor, das zu Unrecht etwas aus der Mode geratene Konzept sozialer Ungleichheit aufzugreifen, um die zunächst disparat anmutenden Leitbegriffe und die wesentlichen Erträge der Sektion schlüssig in einem gemeinsamen Deutungskonzept zusammenzuführen.
Durch eine große Resonanz und die von Zustimmung und lebhaftem Interesse geprägten Diskussionsrunden bestärkt, wird die Publikation der Beiträge dieser Sektion vorbereitet.

 

Vorträge Epoche
Raumperspektiven. Eine Einführung Geschichte des Mittelalters
Templum und Corpus. Die Sakralhierarchie des Kirchenraumes zwischen Ungleichheit und Einheit Geschichte des Mittelalters
Die Pfarrkirche als Ort sozialer Distinktion Geschichte des Mittelalters
Privat und privilegiert – Seitenkapellen und Nebenaltäre in norddeutschen Kirchen Geschichte des Mittelalters
Chorus und capella – musikgeschichtliche Implikationen einer räumlichen Dichotomie Geschichte des Mittelalters
Reflektierte Räume. Zusammenfassung und Ausblick Geschichte des Mittelalters