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Der Berichtsband erscheint voraussichtlich im Sommer 2009. Wir werden Sie an dieser Stelle weiterhin informieren.
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Vortragstitel:
Vom Corpus Evangelicorum zum deutschen Föderalismus
Tag:
01.10.2008
Epoche:
Frühe Neuzeit
Sektion:
Brauchen wir eine neue deutsche Meistererzählung? Perspektiven aus der Frühen Neuzeit

Abstract:

Vom Corpus Evangelicorum zum deutschen Föderalismus

Referent/in: Gabriele Haug-Moritz, Graz

Der Vortrag entfaltete seine Argumentation in fünf Teilschritten:
(1) Seinen Ausgangspunkt nahm er von der Beobachtung Ernst Deuerleins, der bereits 1972 festhielt, dass Föderalismus zu den Begriffen gehört, die „je mehr über sie geredet wird, um so weniger (...) verstanden" (9) werden. Vor diesem Hintergrund wurde
(2) das zeitgenössische Begriffsverständnis vorgestellt und erarbeitet, daß der Begriff im 18. Jahrhundert ein innerstaatliches, politisches Organisationsprinzip beschreibt, dem die Vor-stellung der gleichberechtigten, nicht gleichgewichtigen, Teilhabe aller Föderierten im Ge-meinwesen inhärent ist. Wie die, seit den 1760er Jahren im Reich geläufigen Begriffe der „Konföderation" und des „Bundes", indizierte dessen Verwendung, dass man im alten Streit um die „forma Imperii" eindeutig Stellung bezog und das Reich im Sinne einer Verfassungs-konzeption deutete, in der der Kaiser nicht als (Ober-)Haupt des Reiches, sondern als des-sen mächtigstes (Mit-)Glied und Mandatar der Reichsstände erscheint, denen die Souveräni-tät zuerkannt wird, sei es in ihrer Gesamtheit, oder, so erstmals in den 1760er Jahren, jedem einzeln. Zur Verfassungsrealität des Reiches mit ihrer altüberkommenen, 1648 tradierten und seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts wieder konsolidierten, um den Kaiser zent-rierten politischen Ordnung, die Partizipationschancen hierarchisch, nach ständischem Rang, verteilte, verhielt sich eine solche Verfassungskonzeption diametral.
(3) Durch eine Analyse der Denkschriften der in Wien 1814/15 versammelten Politiker, wurde sodann deutlich gemacht, dass in deren Wahrnehmung das föderative Moment der Reichs-verfassung im 1806 aufgelösten Reich aus engste mit der 1648 etablierten Reichsreligions-verfassung verknüpft war.
(4) Daher wurde im nächsten Teilschritt die Reichsreligionsverfassung skizziert und als Er-gebnis festgehalten, dass die Bestimmungen des Westfälischen Friedens, die die konfessio-nelle Pluralität des Reiches in praxi gewährleisten sollten, und nur diese, das Potential besa-ßen, die politische Ordnung nicht nur föderativ zu interpretieren, sondern diese Interpretation auch in ein politisches Handeln zu überführen, das den Kaiser seiner reichsoberhauptlichen Handlungsmöglichkeiten beraubte. Hierin wurde die Bedeutung des Corpus Evangelicorum für die föderalen Traditionen der deutschen Geschichte ausgemacht.
(5) Abschließend wurde herausgestrichen, dass es - unbeschadet der Tatsache, dass sich a) die zu Beginn der 1720er Jahre erarbeitete Deutung der Reichsverfassung bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts nur kurzfristig in politisches Handeln überführen ließ, b) dass das 1648 kreierte Reichsreligionsrecht die militärische Eskalation konfessionell aufgeladener Span-nungen tatsächlich verhinderte und c) weite Politikbereiche auch noch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts jenseits der allumfassenden Handlungsvollmacht standen, die sich die Protestanten 1720 zugeschrieben hatten, - die Aktionen des Corpus Evangelicorum waren, die die Schwäche der kaiserlichen Machtposition evident machten. Daß dessen Aktivitäten nicht nur im „Reich der Schriftlichkeit" (Johannes Burkhardt), sondern auch in Europa medial vielfältig und umfassend reproduziert und wahrgenommen wurden und damit weitere Öffent-lichkeiten erreichten als alle anderen, eine föderative Umgestaltung des Reiches propagie-renden Diskurse, wurde besonders hervorgehoben. Das Corpus Evangelicorum ebnete da-her mit seiner Delegitimierung der monarchischen Bestandteile der Verfassungsordnung den Weg zu einer föderativen Umgestaltung der politischen Ordnung in der Mitte Europas zu Beginn des 19. Jahrhunderts.