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Der Berichtsband erscheint voraussichtlich im Sommer 2009. Wir werden Sie an dieser Stelle weiterhin informieren.
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Vortragstitel:
Das ungleiche Nebeneinander und die Einheit des historischen Erzählens
Tag:
01.10.2008
Epoche:
Frühe Neuzeit
Sektion:
Brauchen wir eine neue deutsche Meistererzählung? Perspektiven aus der Frühen Neuzeit

Abstract:

Das ungleiche Nebeneinander und die Einheit des historischen Erzählens

Referent/in: Georg Schmidt, Jena/München

1. Es gibt eine deutsche Geschichte. Reflexionen über nationale Meistererzählungen sind müßig, solange es Nationen und Nationalstaaten gibt. Das gilt selbstverständlich auch für Deutschland. War das Büchlein Hagen Schulzes 1989 noch ein anregender Versuch, das Eindeutige in einen Post-Diskurs der Uneindeutigkeit zu überführen, mündeten die daran anknüpfenden Überlegungen Wolfgang Reinhardts 2001 in eine durch und durch konventi-onelle Darstellung der Reformationszeit in Deutschland. Wer die nationale Geschichte als sinnvolles Erzählkonstrukt bezweifelt, muss wohl erst den Nationalstaat abschaffen.
2. Die deutsche Meistererzählung ist der Sonderweg mit einem „Anfang" um 1800 und mit einem Handlungsstrang „Nationalstaat", der als didaktisches Lehrstück mit zwei Flucht-punkten erzählt wird: demjenigen der Verfehlung 1933, und demjenigen der erfolgreichen Westintegration 1990. Nazi-Regime und Holocaust, die Erklärung des eigentlich Unerklär-baren und der Bruch mit ihm garantieren der Zeitgeschichte ein Deutungsmonopol über die deutsche Vergangenheit, das angesichts der Pluralisierung, Globalisierung und multikultu-rellen Entwicklungen heute neue Erkenntnismöglichkeiten eher blockiert.
3. Den älteren Epochen ist ihre Eigenlogik zurückzugeben, und sie müssen in einen eigen-ständigen und anregenden Dialog mit der Gegenwart gebracht werden. Die Vorstellung einer Brücke vom Mittelalter oder von der Frühen Neuzeit zur Gegenwart ist methodisch legitim und zumindest heuristisch auch interessanter als ein Verfahren, das die älteren Epochen nur auf 1933 zulaufen lässt. Die Ära des geschlossenen souveränen und möglichst mächtigen Nationalstaates ist eine vergangene Epoche und sie muss als solche behandelt werden.
4. Ein Vergleich des späten Alten Reiches mit der heutigen Staatlichkeit zeigt viele Ge-meinsamkeiten: zusammengesetzte, zerfasernde und offene Staaten, multiple Rechtsre-gime, plurales Mehrebenenregieren, Souveränität als überstaatliche Partizipation, Kontrolle von Herrschaft durch Herrschaft u.v.m. Anachronistisch ist heute nicht mehr das Alte Reich, sondern der nationalstaatliche Maßstab, an dem es gemessen wird.
5. Fazit: Wir brauchen eine deutsche Meistererzählung - aber eine, die nicht die Vergan-genheit, sondern die Gegenwart erklärt. Die deutsche Geschichte beginnt nicht erst um 1800. Allein diese Einsicht relativiert den Alleinstellungsanspruch eines Sonderweges und hilft, den eigenen als einen von vielen europäischen Wegen zu verstehen. Der Blick von der Brücke auf das 19. und 20. Jahrhundert zeigt einen geschlossenen Nationalstaat, der zu spezifischen Lösungen fand, die für die Zeit davor oder danach weder als immerwährendes Muster noch als Menetekel taugen. Die deutsche Geschichte verlöre dadurch freilich den im Ausland ohnehin beargwöhnten Anspruch auf moralisch-didaktische Vorbildhaftigkeit. Eine einheitlich, nicht uniform zu erzählende deutsche Geschichte des ungleichen Nebeneinanders und vielgestaltiger kultureller Leistungen könnte jedoch das gemeinsame europäische Haus um eine nationale Meistererzählung bereichern, die der Gegenwart etwas zu sagen hat.