Almuth Ebke, Veronika Settele (Sektionsleitung)

Die Macht der Religion. Christliche Legitimationsstrategien in der westeuropäischen Moderne

Themen: Neuere und Neueste Geschichte, Zeitgeschichte, Kulturgeschichte
Sprache: Deutsch
Ort: Hörsaal 4
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Die Geschichte christlicher Religion und Kirchen im 19. und 20. Jahrhundert wurde in der deutschsprachigen Forschung bisher weitgehend aus sozialhistorischer Perspektive erzählt. In dieser Perspektive wurden die Kirchen und christliche Akteure oft zu Verlierern in einer ihnen zunehmend außer Kontrolle geratenen Lebenswelt. Die Verlustgeschichte überdeckte die aktive Rolle, mit der christliche Akteure, und zunehmend auch Akteurinnen, insbesondere ideelle Räume nicht nur verteidigten, sondern auch neu für sich reklamierten. In jüngerer Zeit hat vor allem die Missionsgeschichte gezeigt, wie wirksam kirchliche Akteur:innen durch „innere“ und „äußere“ Mission dem als Krise empfundenen Bedeutungsverlust entgegengewirkt haben. Auseinandersetzungen um handfeste Einflusssphären zwischen religiösen und säkularen Kräften waren stets begleitet von einem Ringen um Deutungsmacht zeitgenössischer gesellschaftlicher Phänomene. Insbesondere auf diesem Feld, so die die Vorträge der Sektion zusammenhaltende Hypothese, ist die Diagnose eines Machtverlustes nicht zutreffend und ebenso wenig die für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte These der Privatisierung der Religion. Die Dichotomie Staat vs. Kirche hinter sich lassend fragt die Sektion danach, auf welche Weise und mit welcher Wirkung sich Laien und Kleriker organisierten, um wissenschaftliche, kulturelle und soziale Entwicklungen als un/christlich zu de/legitimieren. Die Sektion zeigt, dass sich christliche Akteur:innen zwar in den sich ausformenden Nationalgesellschaften neu verorten mussten, dass sie die Wertmaßstäbe dieser Räume jedoch nachhaltig prägten.

Nach einer inhaltlichen und organisatorischen Einführung zu den Dynamiken religiöser Macht (10 Minuten) folgen drei Vorträge (je 15 Minuten), die das Zusammenspiel zwischen christlichen Legitimationsstrategien und der Herausbildung von modernen Gesellschaften analysieren. Damit bleiben 30 Minuten Diskussionszeit.

Einführung
Almuth Ebke (Mannheim), Veronika Settele (München)
Schein-Säkularisierung im Vormärz. Unsichtbare Religion bei der Soziogenese einer bürgerlichen Zivilgesellschaft in Preußen
Joachim Renn (Münster)

Die Entstehung von bürgerlicher Staatlichkeit ist auf zivilgesellschaftliche normative Orientierungen angewiesen. Solche Orientierungen sind in der Form eines habituellen Hintergrundes sozialer Milieus wirksam und darum eher implizit. In der Frühphase des Übergangs zu modernen Ordnungen wurde dieses bürgerliche Ethos gerade wegen der säkularisierten Rhetorik und Ansprüchen auf Repräsentation latent religiös. Eine Rekonstruktion bürgerlicher Demokratiepraktiken in Vereinen, Logen oder Salons, die sich an der Vernunft-Moral ausrichtet (Habermas), übersieht diesen latent religiösen Charakter, den der Vortrag anhand von Materialbefunden des preußischen Vormärz aufzeigt.

Dynamiken der Deutungsmacht. Die Debatte um das Wesen des Christentums zwischen Kulturprotestantismus und Reformkatholizismus
Almuth Ebke (Mannheim)

In den 1900er Jahren wurde in Deutschland, Frankreich und dem angloamerikanischen Raum um das „Wesen des Christentums“ gestritten: Angestoßen durch Adolf von Harnacks gleichnamige Publikation stand die Frage nach der theologischen Basis des Christentums im Zentrum dieser transnationalen und transkonfessionellen Auseinandersetzung. Die Spannbreite reichte von einer diesseitsorientierten Kirche des Kulturprotestantismus bis zum Reformkatholizismus, der die Bedeutung kirchlicher Institutionen betonte. Der Vortrag analysiert die weitreichenden kirchen- und gesellschaftspolitischen Implikationen der Debatte und zeigt, wie christliche Akteur:innen aktiv und grundsätzlich gesellschaftliche Deutungsmacht für sich reklamierten – was die These des gesellschaftlichen Machtverlusts der Kirchen in ein neues Licht rückt.

Kolonialer Revisionismus und die deutsche Außenmission
Felicity Jensz (Münster)

Mit dem Versailler Vertrag wurden die ehemaligen deutschen Kolonien Mandatsgebiete des Völkerbundes. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren forderte eine kolonialrevisionistische Bewegung die Rückgabe der deutschen Kolonien und begründete dies mit dem finanziellen Ruin, der Deutschland ohne die Erträge aus den Kolonien drohe, insbesondere angesichts der zu leistenden Reparationen. Zunehmend wurden religiöse Stimmen, insbesondere diejenigen protestantischer Missionsleiter, von der kolonialrevisionistischen Bewegung genutzt, um die moralische Notwendigkeit der Rückgabe der Kolonien zu demonstrieren und die Kolonialschuldlüge zu delegitimieren. Der Vortrag analysiert die Verflechtung von Staat, Mission und kolonialem Revisionismus und zeigt, wie Religion durch ausländische Missionen zur Legitimationsquelle für die Rückforderung der Kolonien wurde.

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