Deutsch-jüdische Geschichtsschreibung nach der Shoah. Historische Bilanz, Zukunftsperspektiven und gegenwärtige Herausforderungen
Vor siebzig Jahren wurde von emigrierten Wissenschaftler:innen an drei Orten der deutsch-jüdischen Exilgemeinschaft zugleich in Jerusalem, London und New York das Leo Baeck Institut (LBI) gegründet. Es sollte nach den Verheerungen von Shoah und Weltkrieg das deutsch-jüdische Erbe bewahren und erforschen. Bewusst entschieden sich die Gründer:innen dafür, die Forschungsanstalt, die sich in der Tradition der „Wissenschaft des Judentums“ sah, nicht im postnazistischen Deutschland zu errichten. Die jüdische Geschichte, so glaubten sie, hatte 1933 auf deutschem Boden aufgehört zu existieren und setzte sich nun in den Ländern der Emigration und Rettung fort. Aus den Neuanfängen nach der Katastrophe entstand gewissermaßen eine „jüdische Historiographie from the Margins“. Diese umfasste teils gar erste, wenngleich von der etablierten historischen Zunft wenig wahrgenommene Untersuchungen zu den Entstehungsbedingungen des Antisemitismus sowie frühe Auseinandersetzungen mit der NS-Verfolgung und der Frage nach dem Standort der jüdischen Geschichte in der sogenannten „allgemeinen“ deutschen Geschichte. Erst 2001 eröffnete das New Yorker Institut eine Dependance im Jüdischen Museum Berlin, seit 1989 besteht zudem die als Verein organisierte Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft, die sich die Förderung und Vernetzung von Historiker:innen der jüdischen Geschichte zum Ziel gesetzt hat.
Im 70. Jubiläumsjahr des Leo Baeck Instituts soll auf diese Anfänge zurückgeblickt und Bilanz gezogen werden – zum einen sollen die Anfänge der deutsch-jüdischen Historiographie im Ringen um Deutungsmacht über die als eigene empfundene deutsche Geschichte rekonstruiert und zum zweiten neue Forschungsperspektiven aufgezeigt und Herausforderungen der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung in der Gegenwart diskutiert werden. Auf fünf kurze Impulsreferate (jeweils 8 Minuten) folgt eine Diskussion (30 Minuten) sowie Fragen aus dem Auditorium (20 Minuten).
Die im Titel aufgeworfene Frage bezieht sich sowohl auf die europäischen Dimensionen der deutsch-jüdischen Geschichte selbst als auch auf ihre geschichtswissenschaftliche Darstellung im 20. Jahrhundert. Ausgehend von den an den LBI oder deren Umfeld entstandenen Forschungsarbeiten diskutiert der Impulsvortrag die Gründe für einen auffälligen Mangel an europäischen Perspektiven.
Seit dem Holocaust hat sich die deutsch-jüdische Geschichtsschreibung vorwiegend mit der Geschichte des bürgerlichen Judentums beschäftigt. Bis heute fristet die Geschichte derjenigen Juden, die Lebensweisen oder Tätigkeiten nachgingen, die etwaige antisemitische Vorurteile hervorrufen könnten, (wie etwa die Geschichte jüdischer Prostituierter) ein Schattendasein.
Der Vortrag wird sich mit der Frage nach einer integrativen Sicht der ost- und westdeutschen jüdischen Zeitgeschichte befassen. Es geht dabei um eine jüdische Perspektive auf frühe historiographische Aufarbeitungsbemühungen zur NS-Geschichte in beiden Nachkriegsdeutschlands sowie um Konflikte rund um das jüdische Kulturerbe. Es wird sich zeigen, wie viele der heute umkämpften (jüdischen) Themen der Gegenwart mitnichten neu sind. Vielmehr hatten sie allesamt Relevanz in West- wie in Ost-Deutschland gleichermaßen und fanden geradezu im gegenseitigen Bezug aufeinander statt.
Eine der Kernfragen, die sich die Gründergeneration der LBI stellte, war, wie die jüdische Geschichte nach der Katastrophe neu untersucht und geschrieben werden kann. Für diese Überlegungen spielte die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 eine entscheidende Rolle. Angesichts des Massakers der Hamas vom 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Krieg in Gaza wird der Vortrag der Frage nachgehen, ob und wie wir die deutsche, jüdische und israelische Geschichte heute neu betrachten sollten.
Infolge dramatischer Migrationsprozesse wurde die deutsche Judenheit nach der „Wende“ 1989/90 Teil eines globalen Netzwerks postsowjetisch-jüdischer Diaspora, deren Zentren sich in Israel und Nordamerika befinden. Dieser Vortrag wird sich dem transnationalisierenden Imperativ dieser Konstellation für die deutsch-jüdische Geschichtsschreibung