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Vortragstitel:
Das Bild des Anderen: Die Darstellung Europas und seiner Geschichte in arabischen Geschichtsbüchern
Tag:
29.09.2010
Epoche:
Geschichtsdidaktik
Sektion:
Kulturen im Konflikt? Zur Begegnung von Orient und Okzident

Abstract:

Das Bild des Anderen: Die Darstellung Europas und seiner Geschichte in arabischen Geschichtsbüchern

Referent/in: Wolfram Reiss, Wien


Abstract 

Der Vortrag basiert auf einer detaillierten Analyse der Schulbücher für Sozialkunde und Geschichte in mehreren Ländern des Nahen Ostens. Im ersten Teil des Vortrags wird zunächst ein genauerer Einblick gegeben in die Darstellung Europas in ägyptischen Schulbüchern.

Hier wird der Westen vornehmlich als aggressiver Feind der islamischen Kultur dargestellt. Europa kommt vor allem als militärischer und wirtschaftlicher Gegner in den Blick a) bei der Schilderung der Eroberungszüge in der Frühzeit des Islam b) bei der Schilderung der Kreuzfahrerzeit, die sehr ausführlich abgehandelt wird und bei der die blutige Eroberung Jerusalems der unblutigen muslimischen Rückeroberung gegenübergestellt wird, c) bei der Schilderung der Kolonialzeit und der Kämpfe um die Unabhängigkeit. Die Kolonialzeit schließt lückenlos an die Kreuzfahrerzeit an und wird als direkte Fortsetzung der Kreuzzüge mit anderen Mitteln angesehen: Was die Kreuzfahrer militärisch nicht erreichen konnten, versuchen die „modernen Kreuzfahrer“ nun auf dem Umweg über den Wirtschaftskrieg.

Kolonialismus und Ausbeutung werden so zu einer rein westlich-christlichen Angelegenheit, während der Kolonialismus und die Ausbeutung von Ländern durch Araber, Mamelucken und Osmanen verschwiegen werden. Das christliche Abendland wird als nicht religiös geprägt und als die kulturell niedriger stehende Kultur beschrieben, die nur aufgrund der Begegnung mit dem Islam in der Renaissance einen Aufschwung nahm. Deshalb ist es Hauptaufgabe des Staates und jedes Bürgers, sich gegen die Bedrohung von außen zu wehren.

Dass Europa seit dem 19. Jh. auf den Nahen Osten auch einen starken kulturellen Einfluss nahm, dass Europäer maßgeblich zum geistigen, kulturellen, wirtschaftlichen und religiösen Erwachen Ägyptens einen Beitrag leisteten, wird nicht thematisiert. Formen der Zusammenarbeit, die es auf vielen Ebenen mit Europa heute gibt, werden nirgendwo erwähnt. Geschichtliche Entwicklungen in Europa zwischen dem 12. und dem 19. Jh. sind nicht Gegenstand der Geschichtsbücher. Insoweit wird von Europa ein sehr verzerrtes Bild gezeichnet, das den gegenwärtigen Beziehungen nicht entspricht.

Im zweiten Teil des Vortrags werden Vergleiche zur Darstellung Europas in anderen Ländern gezogen. Auffällig ist z. B., dass in den neuen Schulbüchern von Palästina die Kreuzzüge nicht als religiöse Kriege geschildert werden und dass ihnen bei weitem nicht eine solch zentrale Bedeutung zugemessen wird wie in Ägypten. Zudem wird großer Wert auf die Erziehung zur Toleranz aller Religionen und Kulturen gelegt. Hier ist also kein pauschales Feindbild gegenüber Europa festzustellen.

In Geschichtsbüchern in Syrien gibt es hingegen ähnlich wie in Ägypten eine starke Tendenz zur Polarisierung und Polemik. Die militärischen und ökonomischen Auseinandersetzungen in der Antike, im Mittelalter und in der Kolonialzeit werden betont. Der zentrale Feind ist jedoch nicht der Westen bzw. die europäische Mächte, sondern es sind die „Hebräer“ zur Zeit Kanaans, die Zionisten, die Juden und der gegenwärtige Staat Israel, die als Feinde der arabisch-islamischen Welt gekennzeichnet werden und die mit den Kreuzfahrern gleichgesetzt werden. In einigen Kapiteln werden grundlegende sachliche Informationen über geschichtliche Entwicklungen in Europa und auch einige Informationen über Orientalische Christen gegeben.

In den Geschichtsbüchern im Libanon streitet man über die Geschichtsdarstellung in den Schulbüchern seit vielen Jahren. Jede ethnisch-religiöse Gruppe produziert ihre eigenen Geschichtsbücher. Der Versuch einer gemeinsamen Darstellung der Geschichte in einem vereinigten nationalen libanesischen Curriculum ist bisher gescheitert.

In den Geschichtsschulbüchern Algeriens gibt es eine sehr starke Polemik gegen die Kolonialmächte Frankreich und Spanien, die sogar die Polemik in Ägypten übertrifft, andererseits stehen dazu in starkem Gegensatz die sachlichen Informationen über die Refor-mationsbewegung in Europa im Geschichtsbuch der 9. Klasse. Hier werden nüchtern und de-tailliert die religiösen Motive und Biographien von Luther und Calvin beschrieben und die historischen Entwicklungen nachgezeichnet, die zur Gründung der Anglikanischen Kirche führten. Diese Kapitel sind frei von jeglicher Polemik. Als Erzfeinde des Islam werden also in Algerien nicht verallgemeinernd alle europäischen Mächte gesehen, sondern nur die beiden Kolonialmächte Spanien und Frankreich, die eng mit der Römisch-Katholischen Kirche ko-operiert hätten bei ihrer Expansion und Unterdrückung. Gegenüber Nordeuropa und dem e-vangelischen Christentum verschiedener Richtungen scheinen solche Vorbehalte und Stereo-typen nicht vorhanden zu sein.

Bei diesen Vergleichen von Geschichtsbüchern im Nahen Osten fällt auf, dass die Darstellung Europas in der islamisch-arabischen Welt nicht einheitlich ist und dass sich in den Geschichtsbüchern die jeweilige nationale Agenda widerspiegelt.

Am Ende des Vortrags wird kurz auf den Inhalt einer Empfehlung der Arabischen Liga und der UNESCO zur Darstellung Europas in arabischen Schulbüchern und zur Darstellung der islamischen Geschcihte und Kultur in europäischen Schulbüchern hingewiesen.