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Vortragstitel:
Die Erfindung des Fremden: Das Türkenbild in Mittelalter und Früher Neuzeit
Tag:
29.09.2010
Epoche:
Geschichtsdidaktik
Sektion:
Kulturen im Konflikt? Zur Begegnung von Orient und Okzident

Abstract:

Die Erfindung des Fremden: Das Türkenbild in Mittelalter und Früher Neuzeit

Referent/in: Hartmann Wunderer, Wiesbaden


Abstract

Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem expandierenden Osmanischen Reich und europäischen Staaten prägten seit dem Spämittelalter bis ins 18. Jahrhundert das Bild von den „Türken“. Die Türkenfurcht wurde ein großes Thema in innereuropäischen politischen und religiösen Auseinandersetzungen. Entsprechend den militärischen Konstellationen verschoben sich allerdings allmählich die Wahrnehmungsmuster. Die heute erneut politisch und sozial überaus wirksamen und nicht selten irrationalen „Überflutungsängste“ greifen auf Muster zurück, die im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit entwickelt wurden. Diese – durchaus facettenreichen - Bilder und Stereotypien werden näher untersucht werden.


Türkenkriege und Medienkriege

Mitteleuropa wurde seit der Eroberung von Konstantinopel von Türkentraktaten schier überflutet. Dabei dominierte klar eine dramatisierende Übertreibung der tatsächlichen oder vermeintlichen Türkengefahr. Berichtet wurde von brutalen Überfällen und Eroberungen der „Türken“. Türkendrucke berichteten in rascher Folge von dem Belagerungen und Kämpfen sowie insbesondere von brutalen Greueltaten dieser neuen Gefahr aus dem Osten. Fingierte kirchliche Briefe machten die Runde, in denen Schauergeschichten erzählt wurden.

Bisweilen wurde – entsprechend der apokalyptischen Signatur des frühen 16. Jahrhunderts – mit dem Vordringen der Türken das nahe Weltende prognostiziert. Das reflektiert sich auch in zahlreichen berühmten Kunstwerken etwa von Dürer.

Die „Türkengefahr“ wird auch bei den innerreligiösen Konflikten des 16. Jahrhunderts in folgenreicher Weise instrumentalisiert. Vor allem Luthers häufig artikulierten antitürkischen Ressentiments wird eine beachtliche Folgewirkung zugeschrieben. Freilich verknüpft Luther seine antitürkische Agitation mit seiner antipapistischen Polemik, und hier wird offenbar eine Besonderheit antiosmanischer bzw. antimuslimischer Pamphletik deutlich: Offensichtlich zielt Luther gleichermaßen auf „die Türken“ wie auf den Papst, seinen „Intimfeind“, die Negativbeschreibungen gelten beiden gleichermaßen. Und weiterhin dienen die antitürkischen Klischees dazu, Missstände im eigenen Land anzuprangern.

Aus mitteleuropäischer Perspektive wird dabei wenig in den Blick genommen, wie sich die „Islamisierung“ des Balkan vollzog. Während die traditionelle Sichtweise bei diesem Prozess glaubenseifernde Muslime am Werk sehen, die mit „Feuer und Schwert“ zu Werke gingen, betonen Vertreter einer modernen Osmanistik, dass sich diese Islamisierung eher auf freiwilliger Basis abspielte, konnten sich doch auf diese Weise Völker ihren ehemaligen – wenig toleranten – orthodoxen ostkirchlichen Zwingherren entziehen.


Mediale Dämonisierung versus Realpolitik 

Die Wahrnehmung der Türken im „Abendland“ vollzog sich nicht im politisch luftleeren Raum, sondern im Rahmen der großen politischen Konflikte zwischen dem Papst, dem Heiligen Römischen Reich, Frankreich, Venedig und anderen italienischen Republiken, Spanien und England. Und da liefen die Konfliktlinien keineswegs zwischen dem dämonisierten Orient und dem christlichen Okzident, sondern verwirrend kreuz und quer. Sicherlich existierte bereits damals ein rudimentäres Bewusstsein von „Europa“, es war aber – entgegen dem medial inszenierten Feindbild „Muslime/Türkei“ – keineswegs so wirksam und eindeutig wie heute, auch wenn die Feindbilder bereits damals apodiktisch abwertende wie negative Zuschreibungen enthielten, die eigentlich keine militärischen oder politischen Koalitionen zuließen.


Demonstration der neuen Überlegenheit: Verschleppung von Türken und Turquerien

Türken leben nicht erst seit dem „Wirtschaftswunder“ der ausgehenden 1950er und frühen 1960er Jahre in Deutschland, als sie als „Gastarbeiter“ angeworben wurden, sondern bereits seit 300 Jahren. Auslöser hierfür waren die Türkenkriege. Nach diesen Kriegen wandelte sich das Bild vom „bedrohlichen Türken“, an seine Stelle trat zunehmend das Interesse am Exotisch-Fremden. Aber auch der Orientalismus war geboren. Darunter verstehen einige Historiker einen eurozentrischen Blick auf den Orient, der gepägt ist von einem Überlegenheitsgefühl, bei dem einem „aufgeklärten Westen“ ein „mysteriöser Orient“ gegenübergestellt wird. Dieser Blick setze letztlich die tief sitzende Tradition von Feindseligkeit gegenüber dem Islam fort und legitimierte eine kolonialistische Haltung gegenüber der muslimischen Welt.

Im 18. und 19. Jahrhundert, im Zeitalter des Nationalismus, erlosch allmählich das Bewusstsein von einer „Türkengefahr“. Im wenig reformorientierten Osmanischen Reich machten sich Zerfallserscheinungen breit, der interkulturelle Austausch ähnelte eher einer Einbahnstraße, das Interesse des Orients am „Westen“ war eher gering, und zugleich wandelte sich in Europa das Bild von den „grausamen“ Türken. Changierte die Wahrnehmung der Türken früher zwischen Furcht und Bewunderung angesichts der militärischen Leistungen, trat nun an die Stelle des gefürchteten Kriegers ein unterschwelliger Spott, Häme und/oder gar Verachtung, auf jeden Fall aber auch eine Neugierde auf das Exotisch-Fremde. Die europäischen Höfe schmückten sich jetzt nicht nur mit einem „Vorzeige-Mohren“ aus Schwarzafrika, sondern auch mit einem „echten“ Türken, der Neugier, Aufsehen und Bewunderung fand.


Toleranz, Menschlichkeit und Großzügigkeit 

Vor allem in der Zeit der Aufklärung, als die Türkengefahr bereits merklich abgeflaut war, verschob sich deutlich das Bild von den Muslimen und Türken. Das Bild changiert nun zwischen der Akzentuierung eines blutrünstigen und intoleranten Glaubens einerseits und Tugenden wie Zuvorkommenheit, Barmherzigkeit und Gastfreundschaft andererseits. Anfänge einer Orientalistik als wissenschaftlicher Disziplin zeichneten sich ab.


Reiseliteratur

Diese Widersprüchlichkeit  kennzeichnet auch die im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert anschwellende Literatur über den Orient. Freilich kennen viele der Autoren diesen gar nicht aus eigener Anschauung, sondern „erfinden“ sich „ihren“ Orient. Andere benutzen den Orient nicht als Raum zur kritischen Selbstreflektion, sondern zur selbstgefälligen Selbstvergewisserung, wenn das Eigene und das Fremde schroff gegenübergestellt werden.


Ausblick: Der kranke Mann am Bosporus – nationale Fremd- und Selbstbilder

Im 19. Jahrhundert ändert sich das Türkenbild erneut gravierend. Ein Auslöser hierfür war der im Jahr 1821 einsetzende griechische Befreiungskampf gegen die osmanische Herrschaft, der breite Unterstützung und Solidarität bei europäischen Intellektuellen und Adligen fand.

Die Muster, die dabei entwickelt wurden, vermischen sich mit traditionellen und sie prägen aber auch immer noch unser gegenwärtiges Türkenbild, das ebenfalls von Nichtverstehenwollen, Ablehnung und Geringschätzung bis Verachtung bestimmt ist.