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49. Deutscher Historikertag 2012: Ressourcen - Konflikte

"Wie auf dem Basar?" Zensurkriterien und Zensurpraxis in der Sowjetunion und der Tschechoslowakei

Referent/in: Ivo Bock (Bremen)

Abstract:
Die Zensurpraxis im früheren Sowjetblock bestand keineswegs immer nur in der konsequenten Anwendung und Durchsetzung bestimmter eherner Kriterien. Die Kontrolleure genehmigten vielmehr nicht selten vor allem literarische Werke und andere kulturelle Produktionen, die den jeweils geltenden Verboten und Geboten mehr oder weniger deutlich widersprachen. Dabei handelte es sich bisweilen schlicht um Fehlentscheidungen oder Unterlassungen einzelner Akteure, die meist im Nachhinein als solche erkannt und sanktioniert wurden. Der Vortrag beschäftigt sich aber nicht mit offensichtlichen Zensurpannen dieser Art, sondern mit solchen Fällen, in denen sich die Zensur gezwungen sah, aus ihrer Sicht problematische, schädliche Publikationen, Aufführungen und Ausstellungen freizugeben, weil sie dazu von hierarchisch übergeordneten (Partei-)Organen verpflichtet wurde oder weil sie Kompromisse mit den Zensierten schließen musste. Neben Widersprüchen zwischen verschiedenen Kontrollebenen illustrieren diese Vorgänge die zumindest phasenweise vorhandene Bereitschaft der nachstalinistischen Herrscher, die Existenz kleiner Nischen eines relativ autonomen kuturellen Lebens hinzunehmen. Diese etwas „liberalere“ Zensurpraxis war allerdings meist selektiv und von kurzer Dauer. Hinzu kommt, dass sie vornehmlich taktischen Überlegungen entsprang: Man wollte etwa westlicher Kritik zuvorkommen, Unzufriedenheit im einheimischen kulturellen Milieu besänftigen oder einzelne Prominente bei Laune halten. In Übergangs- und Schwächeperioden der kommunistischen Regime, so in der Chruščev-Ära und endgültig ab Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre in der Sowjetunion und in den 1960er Jahren in der Tschechoslowakei, stellte diese Praxis aber auch ein Indiz für deren nachlassendes Steuerungsvermögen dar, das sich zuallererst eben in der Kultursphäre bemerkbar machte. Warum das so war, liegt auf der Hand: Ein gewisser Kontrollverlust hier war wegen der geringeren Verbreitung der Kultur eher hinnehmbar als bei den Massenmedien, vor allem Funk und Fernsehen, die bis zum Ende der kommunistischen Herrschaft einer unvermindert strikten Kontrolle unterworfen blieben.

Kategorie: Neuere/Neueste Geschichte

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