„Zellen-Triumphalismus”? Selbstermächtigung durch Hungerstreik. Der Fall der RAF-Gefangenen in den 1970er und 1980er Jahren

MARCEL STRENG (Bielefeld)

Abstract:

Hungerstreik ist in den geschlossenen Strafanstalten der Moderne eine geläufige Form des Widerstands. Hungerstreikende setzen in Konflikten mit dem Anstaltspersonal den eigenen Körper ein, den sie ab dem Punkt der Entscheidung, keine Nahrung mehr aufzunehmen, einem Prozess des Verhungerns aussetzen. Damit öffnet sich ein Zeitfenster, innerhalb dessen Verhandlungen möglich sind. Am historischen Beispiel der RAF-Gefangenen und ihrer insgesamt 10 Hungerstreiks in den 1970er und 1980er Jahren kann gezeigt werden, dass und auf welche Weise mit dem Hungern und dem Gewichtsverlust zugleich ein Zugewinn an Macht verbunden war, den die Gefangenen ausführlich reflektierten. Im Vortrag wird diese Praxis als Subjektivierungsstrategie interpretiert, die durch grobe internistische Handreichungen angeleitet einen Hungerkörper herstellte, der dann wiederum inner- und außerhalb des Gefängnisses eine eigene agency entfalten konnte. Insbesondere in der Auseinandersetzung über die Frage, ob die Hungerstreikenden mit Gewalt (Zwangsernährung) am Leben gehalten werden oder ob man sie verhungern lassen sollte, stand die wohlfahrts- und sozialstaatliche Gouvernementalität der sozialliberalen/sozialdemokratischen Reformära infrage. Zugleich können sowohl die asketische Selbstermächtigung der Hungerstreikenden als auch die konservativ-liberale Übernahme der Selbstbestimmungsdiskurse in eine Genealogie des neoliberalen Subjekts seit den 1970er Jahren eingeschrieben werden.

English Version:

Hungerstriking is a common way of protest and resistance in modern prison facilities. Hungerstriking does not simply mean to cease nutrition, but to consciously use the body in conflicts with prison authorities. From the very beginning of a hungerstrike, its actor the body is subject to a process of starvation which sets a narrow time frame for negotiation. The paper will show, using the example of the Red Army Faction hungerstrikes during the 1970s and 1980s, how hunger, starvation and loss in body weight was strategically intended to gain bargaining power and felt as a recapture of the “alienated” self. Hungerstriking is interpreted as a practice of subjectivation that was controlled by the prisoners on the basis of medical advices and produced a starving body subject whose agency unfolded inside and outside the prison as well. In fact, in the middle of the 1970s, the very danger of starving “terrorists” triggered a general debate on whether they should be left for dying or if the state should intervene to keep them alive by force feeding. This debate went to the core of the solidary governmentality of the western German Welfare State. Thus, hungerstrike as an ascetic technique of the self employed by the Red Army Faction as well as the succeeding reforms of the force feeding practices in the western German prison law should be analyzed as related to the context of the emerging neoliberal or ‘neo-social’ governmentality in the Federal Republic.