Wikipedia. Ein Spiegel der Gesellschaft. Zum schwierigen Verhältnis von öffentlich verhandelter Geschichtsrepräsentation und -rezeption

MAREN LORENZ (Toronto)

Abstract:

Nach wie vor hadern die Wissenschaften mit der Wikipedia (WP) primär aus zwei Gründen. Zum einen entzieht der Prozesscharakter der Plattform jeder Qualitätsdiskussion gleich die logische Grundlage. Zum anderen gibt es nach wie vor kein Peer Review System, kein systematisches auf akademischer Meritokratie gegründetes Qualitätsmanagement. Der oft legitimatorisch gezogene Vergleich mit den ersten Enzyklopädien der Frühen Neuzeit trifft das Problem unfreiwillig genau. Auch Diderots Enzyklopädie verhandelte konkurrierende Theorien, vor allem aber nicht nur in den gerade neu entstehenden Naturwissenschaften. Sie war stark normativ geprägt, da alle Autoren ihren persönlichen Standpunkt, ihre wissenschaftlichen Überzeugungen öffentlich zu verankern und zu propagieren suchten. Das erinnert etwas an die aktuellen Debatten um die offenbar massiven gezielten Manipulationen politischer und ökonomisch relevanter Lemmata in der WP. Allerdings hätte im 18. Jahrhundert niemand die Enzyclopädie als wissenschaftliche Referenz benutzt. Im Gegenteil ihre aufklärerische Sprengkraft lag gerade in der Diskussionsfähigkeit ja Provokationskraft vieler Inhalte. Darum sind Wikipedia und Diderots Enzyklopädie zu recht weltberühmt geworden. Sie brachten und bringen viele Menschen unterschiedlicher sozialer und geographischer Herkunft dazu, sich intensiv über Werte und Fakten, Ereignisse und Neuigkeiten auszutauschen, ja erst dafür zu interessieren. Dort geäußerte Behauptungen werden aber seit dem 18. Jahrhundert erfolgreich an anderen Orten, in Fachjournalen publiziert und diskutiert. Enzyklopädien wurden zu Nachschlagewerken “geronnen” Wissens, mit all ihren Vor- und Nachteilen. Der Vortrag wird sich auf dieser Grundlage damit befassen, wie in den Geschichtswissenschaften, d. h. primär in der universitären Ausbildung mit dieser Vielschichtigkeit umgegangen werden sollte/könnte.